Cover

Xaver Maria Gwaltinger ist im bayerischen Schwaben aufgewachsen, hat Germanistik, Theologie und Psychologie studiert und lange in Frankreich und Australien gelebt. Das Allgäu ist aber seine Heimat geblieben.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Danke an Carlos Westerkamp, der »Himmelherrgottsakrament« gründlich, kritisch, scharfsinnig und kreativ in vertrauensvoller Zusammenarbeit lektorierte.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus Screeny/photocase.de, mauritius images/Martin Zurek

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-252-6

Allgäu Krimi

Originalausgabe

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1 Absturz

Das Leben ist kein Gefühlsallgäu.

Doch.

An diesem Sonntag war das Leben ein Gefühlsallgäu.

Kaiserwetter.

Der Grünten, der Wächter des Allgäus, mit seinen tausendsiebenhundertachtunddreißig Metern glänzte im Sommersonnenlicht. Majestätisch.

Er spiegelte sich ruhig im See von Tal.

Der Parkplatz am See, auf der Moosbacher Seite, gegenüber von Tal mit seiner schmucken Barockkirche St. Marien, war schon vormittags überfüllt.

Kinder spielten am Wasser.

Windsurfer surften bei milder Brise über den See.

Männer saßen an den Bierbänken beim Kiosk und zelebrierten Frühschoppen.

Frauen in Mini-Bikinis stellten ihr eingeschmiertes Gesicht in den günstigsten Einfallswinkel der Sonnenstrahlen. Augen geschlossen.

Es stank nach Sonnencreme.

Sonnenbrände zeichneten sich auf rosa Schweinchenhaut ab.

Luftmatratzen, Campingliegen, Kühlboxen, Sonnenschirme.

Ich hatte die uralte Frotteemütze, ein Erbstück meines Vaters, auf dem Kopf, die Allgäuer Rundschau vor dem Gesicht, ein T-Shirt an. Ich hasse Sonnenbrand.

Die Kirche von Tal läutete. Mittagsläuten.

Am Himmel zog hin und wieder ein Heißluftballon dahin. Hoch oben. Erhaben.

Ich vertiefte mich in meine liebste Gesellschaft, die Zeitung.

Eine Buchbesprechung. Ein Allgäu-Krimi. »Kruzifix«. Der Besprecher fand ihn »schräg«, was immer das heißen mochte. Ein Artikel berichtete besorgt über das Kuhsterben, das unerklärliche. Vor ein paar Tagen hatte ich so eine Kuh auf der Weide gesehen. Aufgeblasen wie ein Luftballon. Die Läufe himmelwärts. Die anderen Kühe grasten unbewegt um sie herum, als wäre nichts passiert. Müssen ein dickes Fell haben, die Kühe, dass sie neben einer toten Mitkuh seelenruhig grasen können. Erinnerte mich an meine Zeit im Krankenhaus. Schon Jahre her. Vier Jahre. Eine Ewigkeit. Ich konnte nie begreifen, wie die Schwestern und Pfleger mitten in dem Mief von Scheiße, Urin, Bettschüsseln, Desinfektionsmitteln in aller Herrgottsruhe Brotzeit machen konnten. Mein Appetit verließ mich jeden Morgen bei Dienstantritt am Haupteingang, wartete und holte mich nach Feierabend am Hauptausgang wieder ab.

Ein Raunen ging durch die Bademenge. Die Köpfe der Kinder, Väter, Mütter drehten sich alle in eine Richtung. Zeigefinger zeigten in die Luft. Augen weiteten sich. Münder öffneten sich und blieben offen. Erste Schreckensschreie.

Nein!

Entsetzte Gesichter.

Männer sprangen von den Bierbänken auf, schütteten die Weizengläser um.

Frauen öffneten die cremeverschmierten Augen, vergaßen, ihre Bikinis zuzumachen.

Dann Stille.

Entsetzte Stille.

Entsetzliche Stille.

Ich wandte mich um, in die Richtung, wo ein Rauschen herkam. Es wurde immer rauschiger, und ich sah:

Ein Heißluftballon senkte sich auf den See.

Immer tiefer.

Die Gasflamme zischte feindselig.

Der Korb darunter schlug fast schon auf dem Wasser auf.

Es spritzte.

Der Ballon ging in Flammen auf. Der Korb versank.

Der Ballonstoff brannte, es zischte, dampfte.

Der Ballon war abgetaucht.

Über der Absturzstelle stand eine Rauchsäule.

Kinder heulten.

Mütter beruhigten.

Väter telefonierten mit ihren Handys.

Das einzige Motorboot am See röhrte und nahm Kurs auf die Rauchwolke.

Die Wasserwacht.

Das Martinshorn der Feuerwehr.

Der Polizei.

Der Sanitäter.

Das Rattern eines Hubschraubers kam näher.

Der Badeplatz wurde evakuiert.

Für die Rettungskräfte.

Falls es noch was zum Retten gab.

2 Supervision

Montagabend.

Supervision.

Die Pfarrerin von Füssen, Melanie Spielrein.

Zu Recht hieß sie Melanie. Wie ihr Vorbild, die Melanie Klein aus England, die große Psychoanalytikerin. Die Pfarrerin Melanie war auch klein, schön und hemmungslos. Sie konnte über sexuelle Perversionen so locker reden wie andere Frauen über Tupperware.

Sie war nicht nur Pfarrerin, sie war auch Therapeutin. Seit einem Jahr nahm sie regelmäßig Supervision bei mir. Weiß Gott, warum. Vielleicht fühlte sie sich sicher bei mir: Ich hatte keinen Ehrgeiz mehr, etwas zu werden oder aus anderen etwas zu machen, ich war in keiner Kirche mehr und kein Mitglied von irgendeinem psychoanalytischen Inzestinstitut. Mit einem Wort: jenseits von Gut und Böse.

Wir saßen uns im Dachzimmer der Biselalm diagonal gegenüber, das Zimmer mit dem Schild »Schreibstube«. Die Biselalm ist ein altes Bauernhaus mit alten Zimmern. Über Tal am See. Auf tausendsiebzig Metern über dem Meeresspiegel.

Sie hatte Notizen, aus denen sie vorlas. Von ihren Behandlungen. Mir wäre lieber gewesen, sie hätte mir einfach erzählt, ohne Notizen. Kommt mehr raus dabei. Vom Unbewussten. Aber ich erinnerte mich daran, dass ich jahrelang auch mit Notizen zur Supervision gegangen war. Als ich die Notizen nicht mehr brauchte, brauchte ich die Supervision auch nicht mehr. Wenigstens nicht die für die Ausbildung. Dann fing ich an, Psychoanalytiker zu werden. Nach der Ausbildung.

Alles das lag noch vor der Kollegin Melanie, sie war erst Mitte dreißig.

Sie wischte ihr langes blondes Haar aus dem Gesicht mit den braunen Rehaugen, setzte sich ihre Brille auf die Nase, die einen kleinen Höcker hatte, und fing an, mir vorzulesen. Erinnerte mich an Barbra Streisand. Die Nase.

Ich fing an, mich zu langweilen.

Das war neu.

Was war bloß los?

Sie las wie geistesabwesend.

Einen toten Text.

Einen Totentext.

Mir fiel absolut nichts dazu ein.

Ich war wie hirntot.

Zum Glück brachte sie immer mehr Details, es ging um eine Frau, deren Mann fremdging und die sich fragte: Was hat die andere, was ich nicht habe?

Ich schaute verstohlen auf die Uhr.

Erst eine Viertelstunde vorbei.

War die Batterie leer?

Meine Batterie im Kopf war leer.

Ich sagte in einer Notizenpause: »Das ist die übliche Frage jeder Frau, die betrogen wird: Was hat die andere, was ich nicht habe? Wie wirkt denn die Patientin auf Sie? Fehlt ihr etwas – oder fehlt Ihnen was, von dem Sie denken, andere haben es?«

Die Fragerei hatte nur einen einzigen Zweck: die Zeit totschlagen.

Melanie Spielrein übernahm ihren Teil der Totschlagarbeit, sagte: »Sie wirkt auf mich … einfach verzweifelt, sie zweifelt an sich, sie fragt sich, was sie falsch gemacht hat …«

»Verstehen Sie, warum ihr Mann fremdgeht?«

Sie reckte sich auf, schaute mir frontal ins Gesicht, sagte: »Ja. Natürlich!«

»Warum denken Sie, geht er …«

Ihre Augen wurden wässrig, sie senkte ihren Blick auf ihre Notizen, kramte ein Tempo hervor, schnäuzte sich.

In meinem Hals war ein Knoten.

Mir war zum Heulen zumute.

Sie schluckte, putzte ihre Nase.

Wir schwiegen.

Ich sagte: »Irgendwas ist heute anders … komisch … Ist was Besonderes?«

Sie fing an zu weinen.

Sagte: »Ein Patient von mir ist heute nicht zur Stunde erschienen.«

Ich sagte: »Das kommt hin und wieder vor …«

»Ja, schon. Aber … ich hab Angst um ihn …«

»Dass er sich umbringt?«

»Nein … dass er schon tot ist.«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

Ich sagte: »Ja, die Zeit ist um.«

Sie atmete auf. Wir verabschiedeten uns mit Handschlag, wie immer, ich hörte sie die Treppen hinuntergehen. Mit jeder Treppenstufe tiefer schluchzte sie lauter.

3 Ebola

Dienstagmorgen.

Ich konnte es nicht erwarten, bis es sieben Uhr war.

Sieben Uhr morgens. Wenn die Welt noch in Ordnung ist.

Ich stand vor dem Kaufhaus von Tal. Tatsächlich stand in goldenen Lettern »Kaufhaus« über dem Tante-Emma-Laden. Wie »Kaufhaus des Westens«. Es war die Tal-am-See-Version von Lafayette, Printemps oder Le Bon Marché in Paris. In Miniatur. Es gab alles, was man zum Leben brauchte, sogar Luxusartikel. Zum Beispiel frische Brezen, frische Semmeln. Das war’s dann auch schon mit dem Luxus. Der Rest war Konserven, Ketchup, Senf, Beuteltee, Zucker, Mehl. Pappkartons mit ein paar Zwiebeln, Kartoffeln, Äpfeln.

Sogar die Kunst war vertreten: Ansichtskarten von Tal, Tal am See, Segelboote auf dem See von Tal, die Kirche von Tal, Neuschwanstein, Rinderporträts.

Ich studierte sie.

»Guten Morgen«, sagte die Seniorchefin vom Kaufhaus, »was soll’s denn sein?«

Ich dachte: Neuigkeiten über den Ballonabsturz am Sonntag.

Ich sagte: »Zwei Brezn, bittschön.«

Sie nahm die blanken Finger, ohne Schutzhandschuhe oder Greifwerkzeug, wischte sie an der speckigen Küchenschürze ab, langte in den Korb und steckte die Brezen in eine weiße Tüte.

Ich sagte: »Eine Zeitung ham S’ nicht zufällig?«

Ich wusste, dass sie keine Zeitungen hatte, man muss sie bestellen, die Zeitung, spontan gab es sie nicht, die Dienstagmorgen-Allgäu-Rundschau.

Nein, hatte sie nicht, sie erklärte mir, was ich schon wusste.

Ich sagte: »Mich hätt nämlich interessiert, ob da noch was rausgekommen ist mit dem Heißluftballon-Unglück am Sonntag. Waren Sie auch dabei?«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mit ihren weit über siebzig sonntagvormittags mit ihrem Mann, noch weiter über siebzig, am Badesee war und als Zeitzeugin dienen konnte. Sie war nicht exakt der Bikini-Typ. Sie trug eine Kleiderschürze.

Sie sagte: »Wir waren nicht drüben an der Badestelle. Aber wir haben die Sirenen gehört, die vielen, und sind dann schnell raus. Aber wir haben nur noch den Rauch aufsteigen sehen.«

»Sogar ein Hubschrauber von der Polizei war da!«

Sie sagte: »Der hat auch nichts mehr genützt. Der hat halt den Rauch von oben gesehen.«

Ich beugte mich vor, vertraulicher Ton, sagte, leise, als wären wir an einer Verschwörung beteiligt: »Weiß man denn, ob jemand ertrunken ist oder wer oder wie oder was?«

»In der Zeitung steht, man weiß nix!«

»In der heutigen?«

»Nein, in der gestrigen. Die heutige kommt erst am Mittag. Mein Mann ist in Kempten, einkaufen, und bringt die Zeitung mit. Aber schauen S’, da ist die gestrige.«

Sie schlug eine Zeitung auf. Etwas heruntergekommen, die Zeitung. Beim Mittagessen gelesen. Fettflecken. Brösel. Braune Flecken. Blaue Flecken.

Ich sagte: »Hat wohl gestern Sauerbraten mit Blaukraut gegeben … und danach Kaffee und Streuselkuchen?«

Sie schaute mich erstaunt bis entgeistert an: »Ja, richtig, woher wissen Sie das?«

»Steht in der Zeitung!«

»Ach Schmarren. Sie nehmen mich bloß auf den Arm. Aber tatsächlich, Sauerbraten mit Blaukraut …«

Ich schaute ernst, sagte: »Nein, im Ernst, ich hab da so einen siebten Sinn … Manchmal seh ich Sachen, die andere nicht sehen. Hab ich bei den Schamanen gelernt. Am Amazonas.«

»Ich hab denkt, Sie sind in Rente auf der Biselalm.«

»Ja, seit drei Jahr … Aber was steht denn in der Zeitung? Sicher ein Artikel über das Unglück vom Sonntagmittag.«

Sie, begeistert, setzte ihre Lesebrille auf, hielt sich die Zeitung mit der Speisekarte von gestern vor die Augen und las im Tempo von Analphabeten beim Lesewettbewerb: »In den Mittagsstunden des gestrigen Sonntags glaubten die Badegäste in Tal am See ihren Augen nicht: Ein Heißluftballon flog über den See. Er verlor plötzlich an Höhe und stürzte vor den entsetzten Männern, Frauen und Kindern in die Tiefe. Beim Aufschlag auf der Wasseroberfläche explodierte der Ballon, ging in Flammen auf und versank mit dem Korb in den Fluten. Rettungskräfte in großer Zahl – Sanitäter, Notärzte sowie Angehörige von Wasserwacht, Feuerwehr und Notfallseelsorge – waren in wenigen Minuten vor Ort. Die Suche nach Überlebenden, unterstützt von einem Polizeihubschrauber, verlief ohne Ergebnis. Die Unfallursache ist noch ungeklärt. Die Ermittlungen der Polizei gehen in alle Richtungen.«

Sie nahm triumphierend ihre Lesebrille von der Nase.

Ich sagte: »Dankschön fürs Vorlesen. Eigentlich nix, was man nicht schon weiß, wenn man dabei war. Aber Sie …« Wie hieß sie? Frau Kaufhaus? Ich schaute auf die Pappkartons mit Zwiebeln, Kartoffeln, Äpfeln – auf jedem stand mit schwarzem Filzstift: »Rottach/Tal« – und versuchte mein Glück: »… Frau Rottach …«, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, »Sie, Frau Rottach, wissen doch mehr als die Zeitung und wahrscheinlich sogar mehr als die Polizei … Sie reden doch mit jedem hier … Sie sind keine Hellseherin, aber eine Hellhörerin!«

Sie schaute, als wüsste sie nicht, was sie von meinem Kompliment halten sollte, schnaufte durch, sagte dann: »Man hat, soweit ich weiß, noch niemanden gefunden. Sie wissen auch nicht, nach wem sie suchen sollen.«

»Waren Taucher da?«

»Ja, aber die haben auch nix gefunden … Ich mein, keine Toten.«

»Vielleicht war niemand in dem Korb drin, die hätten sicher um Hilfe geschrien, die hocken sich da doch nicht ruhig auf den Boden und warten, bis der Ballon eine sanfte Wasserlandung macht …«

»Ja, wahrscheinlich war niemand drin, da ham S’ schon recht, die hätten sich gemeldet.«

Oder sie waren tot, er, sie, alle.

Dachte ich.

Sie redete weiter: »Aber das Interesse an dem Ballonunfall hat schon nachgelassen. Ob da jemand umgekommen ist oder nicht … Wenn niemand vermisst gemeldet wird, ist es ja auch wurscht … Was die Leut hier grad wirklich umtreibt, sind die toten Kühe.«

»Wirklich? Was für tote Kühe?«

Ich erinnerte mich an die aufgeblasene Kuh mit den Läufen nach oben, die Herde graste um sie herum.

»Es werden immer mehr, ein halbes Dutzend sind es jetzt schon, beim Waltl-Bauer …«

»Und an was verrecken die Küh?«

»Das weiß man noch nicht. Der Tierarzt weiß es auch nicht, jetzt untersucht ein Labor die toten Kühe und was sie fressen … Manche sagen, es ist ein Virus.«

Ich warf ein: »Vielleicht Ebola?«

Sie lachte. Schaute mich von oben herab an, obwohl sie einen Kopf kleiner war, sagte: »Ebola, das kriegen doch bloß die Gorillas im Kongo.«

»Vielleicht ein Allgäu-Ebola-Virus?«

»Noi, noi, die finden das schon raus. Hoffentlich bald. Sonst sind dem Waltl-Bauer seine Küh weg, und dann ist er weg. Er lebt davon. Jetzt, wo er erst vor Kurzem so viel neue Wiesen dazugekauft hat.«

»Dann geht’s um seine Existenz!«

»Richtig.«

»Der arme Mann!«

»So arm ist er auch wieder nicht. Er ist …«, sie senkte ihre Stimme, »… nicht beliebt.«

»Warum nicht?«

»Weil er so gierig ist. Er will der größte Milchkuhbauer von Tal sein. Kauft alles auf. Ruiniert mit seinen Milchpreisen die anderen Bauern … Er verschenkt bald die Milch!«

Die Türklingel klingelte wie bei der Wandlung in der Kirche.

Eine jüngere Frau trat ein.

Sie schaute mich an, erstarrte.

Ich auch.

»Du?«

»Ja, i.«

Es war Toni.

Sie sah furchtbar aus.

Verheulte Augen.

Ringe drunter.

Das T-Shirt verkehrt rum an, innen war außen.

Überhaupt: derangiert.

Wir hatten uns schon lange nicht mehr gesehen. Antonie. Die Witwe vom Anton. Wir hatten ein Geheimnis miteinander. Wir wussten beide, wie ihr Mann, der Anton, umgekommen war. Alle dachten vor drei Jahren, als es passierte, er sei im Schlaf von einem Feuer überrascht worden. Das war auch die Version, die die Polizei ins Protokoll aufgenommen hatte. Und es war nicht verkehrt. Aber es war nicht die ganze Wahrheit. Die kannten nur Toni und ich.

Unsere intime Geheimnisbeziehung war vor drei Jahren von Turbulenzen geschüttelt worden. Toni hatte eine Partnerin, die Johanna, und beide lebten in einer WG, offiziell, in Wirklichkeit waren sie ein Lesbenpaar. Vor drei Jahren war diese Partnerschaft auch in Turbulenzen gekommen, weil sich Johanna eine kleine Auszeit von der schwulen WG genommen hatte.

Mit mir.

Das Ergebnis war Emily. Unsere kleine Tochter.

Ich sagte: »Ich bin grad am Gehen, ich muss zu meiner Alm hinauf, ich hab’s eilig, sonst brennt die Milch an.«

Toni fragte: »Welche Milch?«

Ich sagte, lächelnd: »Die Milch der frommen Denkungsweise.«

Drehte mich um, hörte Toni zur Frau Rottach sagen: »Manchmal isch er nicht recht im Kopf.«

Die Geschäftsfrau sagte: »Vielleicht hat er den Ebola-Virus.«

Toni schnappte: »Eher BSE. Rinderwahnsinn.«

Ich ließ die Ladentür hinter mir ins Schloss fallen.

4 Abfall

Johanna und Toni wohnten im Messnerhaus, neben der Kirche. Sie teilten sich den Messnerdienst für den Pfarrer.

Der neue Pfarrer.

Er war noch nicht lange da.

Ein Jahr und ein paar Monate.

Aber alle mochten ihn schon. Oder immer noch.

Ich ging am Messnerhaus vorbei.

Sollte ich anläuten?

Brauchte ich nicht.

Johanna hängte die Wäsche auf im Garten.

Ich trat ungefragt durch die Gartentür, sagte: »Grüaß di!«

»Was willst denn du hier um die Zeit?«

»Eigentlich wollte ich nett begrüßt werden, aber das hab ich wohl schon verpasst.«

Sie sagte, unwirsch: »Ich hab heut keine Zeit für Nett-Begrüßen, und überhaupt, nett … mir ist nicht nach nett.«

»Nach was ist dir dann?«

»Durch die Hauptstraß springen und laut ›Scheiße‹ schreien. Danach ist’s mir.«

»Hoi. Isch was passiert?«

Sie hängte wild entschlossen die Wäsche auf, nutzte die Wäscheklammern wie Waffen.

»Nix ist passiert. Es ist einfach die Scheiß-Stimmung. Nicht zum Aushalten!«

»Mit dem Pfarrer?«

»Nein, mit der Toni. Ich hab denkt, es ist wieder vorbei … Wie wir zurück waren von Australien, da hat sie getobt, ich hab’s dir ja erzählt, aber dann ist es wieder gegangen, und dann ist der neue Pfarrer gekommen und mit ihm die gute Stimmung …«

Johanna hatte ihre schwule Beziehung mit Toni wieder aufgenommen, nach unserem Hetero-Intermezzo, und es schien alles im Lot zu sein. Ich sagte: »Ich hab die Toni im Kaufhaus gesehen. Sie schaut furchtbar aus. Wie frisch aus Fukushima nach dem Reaktorunglück. Weiß du, warum sie so von der Rolle ist? Hat sie ihre Tage?«

»Schmarren. Bei euch Mannsbilder sind es immer die Tage, wenn ein Weibsbild nicht funktioniert.«

»Was ist es dann?«

»Sie führt sich so auf, weil der Pfarrer nicht da ist.«

»Ist er in Urlaub?«

»Ich weiß nicht, wo er ist. Toni weiß nicht, wo er ist, keiner weiß, wo er ist.«

»Und wie lang ist er schon weg?«

»Am Samstag ist er fort. Am Sonntag war eine Vertretung da.«

Ich erinnerte mich an meine aktive Kirchenzeit, als Pfarrer, sagte: »Das ist aber ungewöhnlich. Normalerweise hält ein Pfarrer noch seine Messe am Sonntag und geht Montag in Urlaub.«

»Die Toni sagt, am Sonntag hat er Geburtstag gehabt, da wollt er einen Ausflug machen.«

»Und, hat er einen gemacht?«

»Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist er nicht da …«

»Und die Toni heult sich die Augen aus dem Kopf, als wär’s ein Stück von ihr.«

»Was für ein Stück?«

»Ach, das ist aus einem Gedicht. ›Der gute Kamerad‹. Der fällt im Krieg.«

»Und was hat das mit dem Pfarrer zu tun und der Toni?«

»Vielleicht sind sie auch zwei gute Kameraden. Kamerad und Kameradin. Wenn die Toni zum Beispiel eine Auszeit nimmt …«

Eine senkrechte Falte legte sich zwischen die Augenbrauen von Johanna. Eine scharfe.

»Eine Auszeit von was?«

»Auszeit von schwul. So was soll’s ja geben.«

Johanna wusste nicht, ob sie lachen oder sonst was tun sollte.

Ich legte nach: »Euer Pfarrer, der ist doch ein stattlicher Mann. Keiner, den eine Frau von der Bettkante schubst … Und dafür, dass er aus dem Norden ist, kann er ja nix.«

»Ich weiß es nicht. Seit unserer Geschichte mit Australien ist sie jedenfalls arg komisch und nervig geworden, die Toni.«

»Hat sie denn eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«

»Die in der Polizei wollten keine Anzeige aufnehmen. Sie haben gelacht und gesagt, wenn sie jedes Mannsbild, das zwei Tag nicht heimkommt, als vermisst aufnehmen müssen, hätten sie nix anderes mehr zu tun … Und jetzt ist sie runter ins Kaufhaus zur Frau Rottach, weil die weiß immer alles. Mehr wie die NSA.«

»Den wievielten Geburtstag hat denn euer Hochwürden Hanno von Hardenberg gehabt am Sonntag?«

»Zweiundvierzig.«

»Ein Mann im besten Alter.«

»Warum ist grad zweiundvierzig das beste Alter?«

»Ein Mann ist immer im besten Alter.«

Sie lächelte. Dachte an etwas Schönes, offenbar. Ihre Augen leuchteten.

Ich legte meine Hand auf ihren runden Hintern, sagte: »Kommst wieder einmal hinauf, auf meine Alm? Alte Erinnerungen auffrischen?«

Sie schaute mir in die Augen. Gerade. Direkt. Sagte: »Spinnst jetzt? Ich muss heut Abend in den Elternabend von der Schul.«

Ich war überrascht. Es waren gerade Ferien. Ich sagte: »Es sind doch grad Ferien, oder?«

Sie errötete, sagte: »Tanzschul.«

»Macht die Tanzschul jetzt auch schon Elternabend?«

»Ja. Inklusion sagen sie dazu.«

»Aber dein Ältester, der Alain, ist doch nicht behindert?«

»Manchmal bin ich mir nicht sicher … Ach, lass mich in Ruh!«

Ich ließ sie in Ruh, sagte: »Wenn des so ist, dann pfüadi!«

Ich war schon halb aus der Gartentür, da machte ich den Columbo, drehte mich um, sagte: »Hast du eine Ahnung, wohin der Pfarrer an seinem Geburtstag einen Ausflug machen wollt?«

»Nein. Ab und zu ist er weggefahren, er hat bloß gesagt, nach Füssen, aber wo genau und was er da vorgehabt hat, weiß ich auch nicht.«

Ich setzte ein ernstes Gesicht auf, gab den Seelsorger, sagte: »Ich mach mir Sorgen um ihn. Ich kenn ihn zwar nicht gut, aber wir haben schon ein paar Halbe miteinander getrunken, und da hat er mir gefallen. Er hat einen guten Zug. Aber er hat auch was Schwermütiges gehabt … Du, Johanna, macht’s dir was aus, wenn ich einen Blick in sein Amtszimmer werfe? Vielleicht hat er was geschrieben, oder man findet einen Hinweis.«

»Aber …«

»Ich bin ja ein Kollege von ihm … Und du gehst mit, damit ich nix anstell.«

»Aber die Toni …«

»Die erfährt nix, das geht schnell.«

Johanna zögerte einen Augenblick, ich sagte: »Wart net bis heut Abend …«

Sie lächelte und ging mit mir ins Pfarrhaus.

Das Amtszimmer war poliert und stank nach Bohnerwachs.

Viele Bücher.

Ungelesen. Dem Aussehen nach.

Großer dunkelholziger Schreibtisch.

Eine Bibel lag drauf.

Was auch sonst.

Die anderen Sachen standen wohl in der zweiten Reihe der Regale.

Die interessanten.

Ich sagte: »Ich glaub, hier ist nix zu finden.«

Neben der Bibel lag ein Kalender.

Der gleiche, den ich auch benutzte. Brunnen-Kalender.

Ich warf einen Blick hinein.

Viel stand nicht drin.

Am Samstag stand drin: »Fü: MS«.

»Fü: MS« stand auch vorher am Freitag, neun Uhr, Mittwoch, neun Uhr, Montag, neun Uhr.

Am Sonntag, seinem Geburtstag, stand drin: »ke. HLB. 6.00«.

Johanna schaute mich fragend an, sagte: »Hast was gefunden?«

»Nein, nix, lauter Hieroglyphen.«

»Dann schnell, gehen wir wieder, ich will nicht, dass die Toni –«

»Ich schau bloß noch schnell in die Bibel hinein, da ist was gelb markiert, wo sie aufgeschlagen ist. Wahrscheinlich für seine Predigt was …«

Ich beugte mich über die Bibel, las den gelb markierten Text: Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist. Matthäus 18,6.

Seltsam.

Was sollte das?

Und eine Lutherbibel dazu?

Wollte er konvertieren?

Johanna sagte noch mal, ungeduldig: »Gehen wir!«

Wir gingen.

Ich ging den schmalen Teerweg mit den platt gefahrenen Kröten hinauf zur Biselalm, in meine Dachstube.

Grübelte.

5 Selbstheilungskräfte

Am nächsten Morgen kam ich erst spät nach Tal hinunter.

Müde.

Heiße Nacht.

Ich war heiß vor Eifersucht. Hatte die Johanna einen Neuen?

Ich sah sie beim Runterfahren.

Sie sperrte gerade die Arztpraxis auf.

Sie war Sprechstundenhilfe.

Teilzeit.

Beim Doktor von Tal.

Dem Neuen.

Dr. August Aichhorn.

Dem Nachfolger von Dr. Siegwart Semmelweis.

Der war an Überarbeitung gestorben.

Genauer gesagt: Herzschlag.

Plus Hirnschlag.

Was den Doppelschlag verursacht hatte, wussten nur Johanna und ich.

Der Nachfolger war noch jünger.

Mitte dreißig.

Single.

Ich wusste, er würde es als Arzt nicht weit bringen.

Nach der Gesundbeterinnen-Affäre war ich bei ihm.

Wegen meinem Knie.

Meniskus.

Er zitierte eine Studie.

Die finnische. Wo sie die eine Hälfte der Patienten operiert haben und bei der anderen nur so getan als ob, und der Behandlungs- oder Nichtbehandlungserfolg war, statistisch, bei beiden Gruppen gleich.

»Alle Achtung«, hatte ich gesagt, »Sie lesen.«

»Ja, wenn grad keine Patienten im Wartezimmer sind, les ich halt.«

»Ich hab die Studie auch gelesen.«

Ich erzählte ihm meine Geschichte. Von dem kaputten Meniskus. Ob ich mich operieren lassen sollte oder nicht.

Er sagte: »Wenn ich Sie wär, tät ich gar nix machen!«

Endlich ein echt guter Rat! Von einem echt guten Arzt.

Er fuhr fort: »Die Natur hilft sich manchmal selber. Wenn Sie sich in den Finger schneiden, brauchen S’ normalerweise auch keine CT und keinen Chirurgen und keinen sonst was. Höchstens nähen, wenn’s tief ist. Aber zuwachsen tut es von selber.«

»Genau!«

»Vor hundert Jahr hat man auch nicht gleich operiert. Da hat man gar nicht operiert. Weil man es nicht konnte. Auf jeden Fall das Knie nicht. Man hat halt die Schmerzen ausgehalten und gehofft, es wird wieder besser. Und oft ist es auch besser geworden. Selbstheilungskräfte.«

»Glauben Sie als Arzt an so was?«

»Ich glaube nicht. So was sieht man doch. Jede Wunde heilt. Jede Grippe vergeht nach acht Tag, mit und ohne Behandlung, jeder Knochen wächst wieder zusammen, man muss ihn halt grad einrichten.«

»Und mein Meniskus?«

»Ich tät einfach einmal nichts Anstrengendes. Aber auch nicht einfach gar nix. Jeden Tag ein halbes Stündle laufen. Zeitung holen langt. Runter ins Dorf, wieder rauf auf Ihre Alm.«

»Im Dorf gibt’s keine Zeitung.«

»Dann bestellen Sie’s halt, dann haben Sie jeden Tag einen Grund, einmal runter- und einmal raufzugehen.«

»Und davon soll mein Meniskus wieder in Ordnung kommen?«

»Jede Woche fünf Minuten länger. Und wenn S’ Ihrem Knie noch was Extragutes tun wollen, reiben Sie’s mit Enzian ein.«

»Enzianblüten?«

»Schnaps! Hochprozentig. Machen alle Bauern hier.«

Ich machte es genau so. Ein Jahr lang.

Mein Knie war wieder in Ordnung.

Ich spürte noch den Wetterumschwung und größere Anstrengungen, konnte aber wieder zwei Stunden ohne Schmerzen laufen, und das langte. Ich konnte sogar wieder um den See herumjoggen. Langsam.

Das mit dem Enzian habe ich beibehalten. Nur umgestellt von Einreiben auf Trinken. Innere Medizin.

Der Dr. Aichhorn schickte mir nicht einmal eine Liquidation mit phantasievollen Dingen wie:

Beratung, auch telefonisch

Untersuchung

Digitale Bildbearbeitung

Kurze Information, auch telefonisch

Wiederholungsrezept

Porto

Blutbild

Reagenzträger

Untersuchung, Organsystem

Sonografie

Folgesonografie

Medikamentöse Einlage

Intensive persönliche Beratung, auch telefonisch

Latex-Handschuhe

Gründliche Untersuchung

Eingehende Belehrung

Nix.

Deshalb kann aus ihm nix werden.

Aber lesen wird er noch viel können.

Der Dr. med. August Aichhorn.

Im Hinausgehen sagte ich: »Ach, vielleicht wissen Sie … unser Pfarrer, wo der steckt? Ich schuld ihm noch einen Fuchzger vom Schafkopfen und hab ein schlechtes Gewissen, weil ich’s ihm nicht zurückgegeben hab, er war doch Ihr Patient.«

Ich hatte keine Ahnung, ob der Pfarrer Patient vom Doktor war. Einfach mal ein Versuchsballon. Außerdem spielte ich nicht Schafkopf.

Der Doktor verschränkte die Arme vor seiner weißen Arztbrust, sagte: »Über meine Patienten darf ich keine Auskunft geben. Datenschutz. Und Schweigepflicht.«

»Aber jetzt, wo er nimmer da ist, ist er doch nimmer Ihr Patient!«

»Aber … trotzdem … Außerdem hab ich ihn nur überwiesen.«

»An wen?«

»An die Frau … Auch das fällt unter Datenschutz. Sakrament! Ich hab jetzt keine Zeit mehr.«

Er griff demonstrativ nach einem Journal. »The Lancet«.

Ich sagte: »Topjournal! Und in Englisch … Respekt!«

Er verkniff sich ein Lächeln.

6 Totenglöcklein

Vor dem Kaufhaus von Tal stand ein Polizeiauto.

Ohne Sirene.

Ohne Blaulicht.

Ich drückte mich rum.

Wollte wissen, was die da wollten. Von der Rottacherin. Die alles wusste.

Was auch immer »alles« war.

Dachte, das Kaufhaus ist ein öffentlicher Ort, da kann ich reingehen.

Ging rein, die Glocke klingelte.

Drinnen stand die Rottacherin hinter der Theke.

Mit roten Wangen.

Wichtigem Blick.

Außer Puste.

Großes Kino.

Zwei Polizisten standen vor der Theke.

Er, Mitte zwanzig vielleicht, mit einem Notizblock in der Hand, in der anderen einen Kugelschreiber. Werbegeschenk der Stadtsparkasse Kempten. Mütze auf. Eigentum des Freistaates Bayern.

Daneben sie, Anfang zwanzig vielleicht. Pferdeschwanz. Mütze drüber.

Drei Paar Augen fixierten mich.

Der Polizist, Chef im Ring, sagte: »Wir haben hier eine polizeiliche Vernehmung. Bitte warten Sie noch einen Augenblick draußen.«

Von wegen Bitte. Es war ein Befehl.

Die Frau Rottach rief mir hinterher: »Wir ham’s gleich. Und eine Zeitung gibt’s heut auch!«

Geschäftstüchtig.

Ich schloss die klingelnde Tür hinter mir, trat vor die Kaufhaustür, die Stufen runter.

Stellte mich mit verschränkten Armen unter das Fenster vom Laden.

Es stand offen.

Ich hielt meinen Atem an.

Um was zu hören.

Hörte Wortfetzen:

»Vermisst …«

»Nein, doch nicht unser Pfarrer … Ja, wo ist er denn?«

»Man weiß es nicht. Drum ist er ja vermisst.«

»Nein, ich weiß von nix …«

»… Brille …«

»… Kollar …«

»… na, so ein Hundekragen eben, was alle katholischen Geistlichen um den Hals tragen …«

»… nein, nix Auffälliges …«

»… Ballon …«

»… Waltl-Bauer …«

»Geizig … Milchpreise … Feinde … aus der Kirche ausgetreten … die Leut sagen …«

Geraune.

Die Kaufhaustür klingelte.

Ich schreckte auf.

Trat auf den Polizei-BMW zu.

Als tät ich mich dafür interessieren.

Sagte: »Krasses Auto!«

Die Polizistin und ihr Genosse schauten mich an, als wäre ich ein Türke.

Er sagte: »Jetzt können S’ wieder hineingehen in den Laden. Wir sind fertig.«

Ich frage: »Mit was?«

Sie sagte, schnippisch: »Mit unserer Arbeit. Wir haben noch mehr zu tun!«

Mit einem Ton von: nicht wie Sie, Sie schnüffelnder Rentner.

Wir kannten uns. Von früher.

Sie hatten mich aus der Mariengrotte auf der andern Seite vom See gefischt und dann in die Irrenanstalt von Kaufbeuren gebracht.

Vor einem Jahr.

Ich drehte mich um, trat ins Kaufhaus von Tal, die Tür klingelte, die Rottacherin stand hinter ihrer Ladentheke. Glühte.

Ich sagte: »Sie ham gesagt, heut gibt’s eine Zeitung.«

»Ja, hier. Halber Preis.«

»Warum?«

»Mein Mann hat’s schon gelesen.«

»Und, steht was drin wegen dem Ballonunfall?«

»Nein, nix steht drin. Die werden halt noch weiter ermitteln. Drum war ja die Polizei da … äh …«

Sie biss sich auf die Lippen. Aber zurücknehmen konnte sie den Spruch mit der Polizei auch nicht.

Ich sagte: »Und was meint die Polizei?«

Sie druckste herum, sagte, trotzig: »Ich hab ihnen bloß erzählt, was ich Ihnen auch schon erzählt hab gestern. Ich stehe unter Schweigepflicht!«

Ich sagte: »Klar. Aber ich nicht. Ich sag Ihnen jetzt, was die Polizei meint. Die Polizei hat rausgekriegt, dass der Waltl-Bauer und der Pfarrer Hardenberg nicht die größten Freunde waren. Im Gegenteil.«

Sie schwieg eisern.

Ich fuhr fort: »Der Waltl ist nämlich aus der Kirch ausgetreten, wegen der Kirchensteuer. Daraufhin hat der Pfarrer ihm heimlich in der Nacht die Kühe vergiftet. Wahrscheinlich mit Restbeständen von E 605.«

»Aber das ist doch ein Insektengift.«

»Es kommt auf die Dosis an.«

Sie schaute wie ein Fragezeichen.

Ich sagte: »Wie viel E 605 man so einer Kuh gibt.«

»Ah so«, sagte sie, »eine Dosn voll.«

»Oder einen Kübel voll. Jedenfalls war der Waltl so stinkig wütend. Irgendwie hat er herausgefunden, dass der Pfarrer am Sonntag eine Ballonfahrt macht. Weil er Geburtstag hat. Er hat dann irgendwas an dem Ballon so gedreht, dass der Ballon abgestürzt ist. In den See.«

»Dann hat der Waltl den Pfarrer …«

Sie war blass geworden.

Käsweis.

Dachte.

Sagte: »Deshalb sind die gleich zum Waltl-Bauer weitergefahren.«

Sie biss sich wieder auf die Lippen. Fragte: »Und woher wollen S’ das alles wissen?«

»Ich hab Ihnen doch gestern erzählt, dass ich eine Schamanenausbildung gemacht hab. Am Amazonas. Gedankenlesen. Hellsehen. Solche Sachen.«

Sie schaute mich mit offenem Mund an.

Ich hatte ihr aus dem aufgeschnappten Gesprächsfetzen, die ich vor dem Fenster gehört hatte, eine kleine Story zusammengeschustert.

Und aus meinen kurzen Recherchen im Pfarramt. Der Eintrag im Kalender vom Pfarrer hatte mich auf eine Idee gebracht.

Meine Story war dennoch total aus der Luft gegriffen. Aber hätt ja so sein können. Ich war sicher, bis zum Nachmittag wusste das ganze Dorf die Geschichte.

Ich sagte: »Und die Zeitung?«

Sie schob mir die gelesene Zeitung über den Ladentisch.

Ich zählte das Geld umständlich ab, schob ihr ein paar Münzen zurück. Zwanzig Cent. Zehn Cent. Fünf Cent. Zwei Cent. Ein Cent.

Zwei Münzen fielen auf den Boden, rollten unter das Regal mit den Dosen. Ich ging behände in die Knie, hob die gefallenen Münzen auf, stieß mit dem Kopf gegen ein Regal. Erbsendosen, Sauerkrautdosen, Maisdosen polterten auf den Holzboden, sogar eine Dose mit saurer Lunge war dabei.

Ich stellte die Dosen zurück, sagte: »Große Auswahl, Respekt«, zählte das Geld vollständig auf den Ladentisch.

»Stimmt’s?«

»Stimmt!«

Ich drehte mich um, stieß eine Kiste Tomaten um, klaubte sie wieder in die Kiste, riss die Tür auf, drehte mich um, raunzte: »Ich bin kein alter Depp!«

Sie stotterte: »Aber ich hab doch gar nicht …«

Ich sagte: »Sind S’ vorsichtig. Ich kann Gedanken lesen. Von den Schamanen gelernt.«

Sie wurde wieder käsweis, wankte. Ihr Mann kam gerade zur Tür herein. Ich sagte: »Ihre Frau wackelt. Es ist besser, Sie fangen sie rechtzeitig auf.«

»Warum?«, fragte er.

Ich sagte: »Sie vertragt die Neuigkeiten nicht!«

Ging.

Das Glöcklein an der Tür klingelte.

Das Totenglöcklein.

7 Tote Kühe machen Mühe

Der Waltl-Hof lag auf dem halben Weg hoch zur Alm. In Biselweiler.

Ich sah ihn. Den Waltl.

Auf seinem Traktor.

Am Rande der Weide.

Kühe weideten, wiederkäuten. Kühe haben vier Mägen. Müssen also ihre Mahlzeit viermal kauen. Ein Konfirmand sagte mir einmal: »Wissen Sie, warum ich so ungern in die Kirch geh? Weil der Pfarrer ist wie eine Kuh. Er liest aus der Bibel und dann kaut er das Gleiche viermal wieder.« Der Konfirmand ist heute Präsident vom Bauernverband. Hat viel von seinem Pfarrer gelernt.

Der Traktor fuhr langsam auf den Weidezaun zu: ein dünner Draht, an eine Batterie angeschlossen.

Die Kühe mieden ihn.

Sie mussten ganz schön schmerzempfindlich sein, trotz ihrer Masse.

Ich hatte es immer mal wieder ausprobiert: So ein kleiner Stromschlag ist unangenehm, aber Zahnschmerzen sind schlimmer. Oder mein Meniskus, wenn es bergab geht.

Ich kam näher.

Der Waltl-Bauer hing hinter seinem Lenkrad.

Düsteres Geschau.

Dann sah ich, warum er so düster schaute.

Es war das, was er hinter sich herzog mit seinem Traktor.

Eine Kuh.

Aufgeblasen.

Die Läufe himmelwärts.

Der Waltl-Bauer und ich, wir kannten uns, aber nur vom Sehen.

Auf dem Weg nach Tal hinunter oder zur Biselalm hinauf nickte ich ihm immer einen wortlosen Gruß zu. Er nickte immer wortlos zurück.

Wenig Worte, viel Herz. Fast schon eine Männerfreundschaft.

Ich blieb stehen, der Bauer machte gerade den Weidezaun auf, ich sagte: »Grüaß di, Waltl-Bauer.«

Er schaute mich an.

Durch mich durch.

Ich sagte: »Schon wieder eine?«

Er nickte. Grimmig.

Ich sagte: »Tut mir leid …«

Er sagte: »Da hab ich auch nix davon.«

Ich sagte: »Weiß man denn schon, warum die Küh reihenweis verrecken?«

»Noi. D’r Doktor sait, vielleicht ein Virus.«

»Aber dann müsste er ja im ganzen Tal rumgehen, der Virus.«

Sein Gesicht hellte sich etwas auf. Er sagte: »Ja, das sag ich mir auch. Warum erwischt der Virus bloß meine Viecher? Wenn es so weitergeht, bin ich in einem Monat geliefert. Bankrott. Insolvent.«

»Vielleicht finden sie es bald heraus.«

»Hoffentlich. Die mit ihrem Virus … Die letzten dreißig Jahr war kein Virus da. Und nur auf meinem Hof … Ich denk alleweil …«

Er machte eine Pause, ins Gesicht stand ihm bittere Wut geschrieben.

»Was denkst denn alleweil?«

Er zögerte.

»Ich denk, da steckt jemand dahinter. Das ist gezielt. Die ham es auf mich abgesehen … Die wollen mich kaputt machen. Von meinen zwei Ferienwohnungen kann ich nicht leben. Am Ende müssen wir den Hof verkaufen …«

Seine Stimme wurde brüchig.

Ich sagte: »Den hat ja schon dein Urgroßvater gehabt, den Hof … und dein Großvater … und dein Vater …«

Er spuckte aus, sagte: »Den wenn ich erwisch, den erschlag ich und schleif ihn durchs Dorf wie die Kuh da, die tote.«

Ich fragte: »Denkst, es ist einer … oder mehrere?«

»Wois itta. Isch auch egal. Ich erschlag einen oder mehrere …«

Wir hingen unseren Totschlagphantasien nach.

Ein Auto näherte sich, Daihatsu Allrad.

Er schien erleichtert.