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Lea hockte mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Bett und kratzte sich mit der türkisfarbenen Radiergummi-Eule, die sich am Ende ihres Bleistifts befand, hinterm Ohr.

Dafür, dass ihre Zwillingsschwester und sie aus einer einzigen Eizelle entstanden waren, waren sie ganz schön verschieden! Gemeinsam hatten sie eigentlich nur das kleine Muttermal unter dem rechten Nasenflügel und dass sie sich auch sonst zum Verwechseln ähnlich sahen. Außerdem teilten sie natürlich die Liebe zu ihren Eltern Rosanna und Gerald von Leipnitz alias »die Butterkekse«, Opa Pistorix und ihrem Papagei Punkt-um, aber das war es dann auch schon.

Lea seufzte leise, blätterte die Zwillingsschwestern-Vergleichsseite in ihrer Kladde um und notierte:

Lea wollte als dritten Punkt gerade »beim Kindertheater in der Garderobe arbeiten« auflisten, als die Zimmertür aufflog und Lucie hereinstürmte.

»Hey, was machst du denn da wieder Langweiliges?«, platzte sie heraus.

Hastig schlug Lea die Kladde zu und ließ sie hinter ihrem Rücken verschwinden.

Lucie zog ihre Stirn kraus.

»Hast du etwa Geheimnisse vor mir?«, fragte sie lauernd.

»Du etwa nicht?«, erwiderte Lea schulterzuckend.

»Ich vor mir?« Lucie lachte. »Ich wette mal, das wüsste ich.«

»Blödi!«

Lea warf eins der bunten Kissen, die das Kopfende ihres Bettes zierten, nach ihrer Schwester. Lucie fing es auf und schleuderte es umgehend zurück. Es traf Lea mitten ins Gesicht, woraufhin sie es gegen ihre Brust drückte und sich kichernd zur Seite kippen ließ.

Lucie witterte ihre Chance.

Sie hechtete auf das Bett zu und schnappte sich die Kladde.

»Heee!«

Lea sprang sofort auf, aber da war Lucie bereits hinausgestürmt. Sie tauchte in ihr Zimmer ab und verriegelte flugs die Tür hinter sich. Es dauerte keine drei Sekunden, und Lea hämmerte mit beiden Fäusten dagegen.

»Gib mir sofort meine Kladde zurück!«, brüllte sie.

Lucie reagierte nicht. Sie stolperte über einen Berg aus Klamotten, Zeitschriften, CDs und Schulunterlagen, der sich auf ihrem roten Teppichboden angesammelt hatte, und rettete sich im letzten Moment in ihren ebenso überfüllten knallgrünen Plüschsessel, der glücklicherweise nicht dort stand, wo er seit ihrer letzter Umräumaktion eigentlich hingehörte.

Lucie schaufelte kurzerhand alles zu Boden, was sie an einem einigermaßen bequemen Sitzen hinderte, und atmete einmal tief durch.

»Was krieg ich dafür?«, brüllte sie schließlich zurück.

Zuerst dachte Lea, dass sie zu viel Schmalz in den Gehörgängen oder irgendeine fiese Ohrenkrankheit hätte, aber dann wurde ihr ziemlich schnell klar, dass ihre Schwester es absolut ernst meinte.

»Gar nichts!«, rief sie. »Jedenfalls nicht, wenn du da drin liest!«

»Tu ich ja nicht«, erwiderte Lucie und schlug die Kladde auf.

»Ach ja?«, wetterte Lea. »Und wer garantiert mir das?«

»Ich«, antwortete Lucie. »Steht sowieso nur schnarchiges Zeugs drin«, setzte sie hinzu, nachdem sie die Liste auf der ersten Seite durchgesehen hatte.

Oaaah! Lea schwoll vor Wut der Hals an. Das war ja mal wieder typisch!

Sie beugte sich hinunter und spähte durchs Schlüsselloch. Ihr Blick fiel genau auf Lucies Bauch … ihre Hände … und die aufgeschlagene Kladde darin.

»Du bist so gemein!«, schrie Lea.

»Geheimnisssverrrraaat!«, krakeelte Punkt-um aus dem Wohnzimmer.

»Überhaupt nicht«, sagte Lucie. Sie schlug die Kladde zu, sprang aus ihrem Sessel auf und lief zur Tür. »Ich werde kein einziges deiner Geheimnisse verraten.«

»Ts!« Lea richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Wer’s glaubt!«

»Vorausgesetzt natürlich, du haust mich nicht k.o., wenn ich dir aufmache.«

»Ich dich?«, fauchte Lea. »Ja, klar! Das mache ich doch immer so!«

In diesem Moment ertönte das Geräusch von einem Schlüssel, der ins Schloss der Wohnungstür geschoben und herumgedreht wurde, und einen Atemzug später stand Rosanna von Leipnitz auf der Schwelle.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie, als sie Lea mit glutrotem Gesicht vor dem geschlossenen Zimmer ihrer Schwester stehen sah.

»Lucie hat Angst, dass ich sie verprügele.«

»Ach, tatsächlich?« Rosanna von Leipnitz’ Augenbrauen wanderten verwundert nach oben. »Da muss sie aber etwas ganz besonders Schlimmes angestellt haben.«

Mein Listenbuch, lag es Lea auf der Zunge. Sie hat mir mein Listenbuch geklaut und darin gelesen.

Doch sie sagte es nicht.

Stattdessen bekam sie es irgendwie hin, sich ein Grinsen ins Gesicht zu zaubern.

Ihre Mutter zog den Schlüssel ab und drückte die Tür hinter sich zu.

Sie stellte ihre Umhängetasche auf dem Korbstuhl neben der Garderobe ab, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und wandte sich wieder Lea zu.

»Muss ich irgendetwas tun?«, fragte sie. »Essensentzug? Kerker?«

»Nein, Mama«, erwiderte Lea lachend. »Es ist alles in Ordnung.«

»Ja dann …«

»Alle Mann in den Kerrrkerrr!«, befahl Punkt-um.

»Tut mir leid, mein Süßer!«, rief Rosanna von Leipnitz in Richtung Wohnzimmer. »Aber der einzige Mann in dieser Wohnung bist du. Zumindest im Augenblick. Außerdem hockst du bereits im Gefängnis.«

»Geheimnisverrraaat«, antwortete Punkt-um. »Küss mich, mein Süßer!«

»Der Arme«, meinte Rosanna von Leipnitz kopfschüttelnd. »Er bringt auch alles durcheinander.« Sie zwinkerte Lea zu. »Vielleicht solltet ihr zwei euch mal ein bisschen um ihn kümmern, damit er sich wieder beruhigt. In der Zwischenzeit mache ich uns drei Hübschen etwas zu essen.«

»Okay …« Lea nickte und atmete tief durch. »Kommt Papa denn gar nicht zum Abendbrot?«

»Nein. Heute ist Elternversammlung in der 10c.«

»Ach so.« Lea heftete ihren Blick auf Lucies Zimmertür. »Dürfen wir Punkt-um fliegen lassen?«, fragte sie laut.

»Meinetwegen«, entgegnete ihre Mutter. »Aber schaut vorher bitte nach, ob alle Fenster geschlossen sind.«

Sie hatte es kaum ausgesprochen, da wurde die Tür bereits aufgerissen, und Lucie stürmte heraus.

»Ich mach das!«, rief sie. »Ich lass ihn raus!«

»Gerne«, murmelte Lea, stieg über Lucies Klamottenberg und klaubte ihre geöffnete Kladde vom Fußboden auf.

stand dort in Lucies Handschrift unter Leas Notizen auf der letzten Seite.

»Wie läuft es denn so in deiner neuen Klasse?«, wollte Rosanna von Leipnitz wissen, als Lea, Lucie und sie eine Dreiviertelstunde später beim Abendessen zusammensaßen.

»Fantastico!«, krakeelte Papagei Punkt-um, der auf der Lehne von Gerald von Leipnitz’ Stuhl thronte und eine Spaghetti verspeiste.

»Na ja«, meinte Lucie. »Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Die Lehrer sind eigentlich ganz okay …«

»Aber?«, fragte Rosanna von Leipnitz gedehnt.

»Alles Arschlöcher«, erwiderte Punkt-um, während er sich nach vorne neigte und die Schüssel mit den Spaghetti beäugte.

»Na, hör mal!«, protestierte Lea. »So etwas sagt man aber nicht!«

Sie gab sich alle Mühe, empört zu klingen, konnte sich ein Kichern aber nicht verkneifen.

»Mhm«, pflichtete Lucie ihrer Schwester bei. »Schon gar nicht zu Spaghetti. Die sind nämlich lecker.«

»Seeehrrr leckerrr!«, bestätigte Punkt-um und riss seinen Schnabel sperrangelweit auf.

»Ganz generell finde ich, dass an seinem Wortschatz ein wenig gefeilt werden sollte«, sagte Rosanna von Leipnitz mit ernster Miene. »Allmählich wird es peinlich, jemanden zu uns einzuladen.«

»Ach, wieso denn?«, meinte Lucie. »Ist doch lustig. Und wenn jemand kommt, in dessen Ohren sich solche Wörter nicht gut anhören, hängst du einfach das Tuch über Punkt-ums Käfig. Und schon hält er die Klappe.«

»Auch meine Ohren sind empfindlich gegen solche Ausdrücke«, entgegnete ihre Mutter scharf. »Soll der arme Kerl deswegen etwa den ganzen Tag im Dunkeln hocken?«

»Nein, natürlich nicht«, gab Lucie hastig und auch ein wenig schuldbewusst zurück. »Aber das mit den A…s habe ich ihm wirklich nicht beigebracht!«, sagte sie und hob die rechte Hand zum Schwur.

»Leckerrr!«, wiederholte Punkt-um und reckte den Kopf in Richtung Nudelschüssel.

Lea fischte eine Spaghetti heraus und hielt sie ihm hin. Der Papagei schnappte sie sich, vertilgte sie schmatzend und schnurrte dabei wie ein Kätzchen.

Rosanna von Leipnitz schüttelte unwillig den Kopf.

»Es sind ja nicht nur die Ausdrücke, sondern auch die Geräusche.«

»Aber das Schnurren …«, startete Lucie ihre Verteidigung, denn das meiste von dem, was Punkt-um von sich gab, war zweiffellos auf ihrem Mist gewachsen.

»Ich meine das Schmatzen«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort.

»Wir hätten ihn besser vor dem Essen wieder einsperren sollen«, sagte Lea seufzend.

»Keine zwei Meinungen«, erwiderte Rosanna von Leipnitz.

»Er wollte ja nicht«, hielt Lucie dagegen.

»Was mich nicht wundert«, entgegnete ihre Mutter. »Ich hätte auch keine Lust, den ganzen Tag in einem Käfig zu sitzen. Die Anschaffung dieses Papageis ist eine einzige Schnapsidee gewesen!«, schimpfte sie plötzlich los und fuchtelte dabei wie wild mit ihrer Gabel in der Luft herum.

»Prost in die Runde!«, sagte Punkt-um mit Gerald von Leipnitz’ Stimme, tänzelte auf der Stuhllehne hin und her und wippte mit dem Kopf.

»Wir haben ihn uns nicht gewünscht«, betonte Lucie und deutete zuerst auf ihre Schwester und dann auf sich. »Papa hat ihn angeschleppt … Einfach so, ohne uns zu fragen.«

»Verrraaat!«, krakeelte Punkt-um.

Er schlug mit den Flügeln und hob von der Stuhllehne ab. Kurz darauf landete er mitten in der Schüssel, griff sich einen Schnabel voller Spaghetti und flatterte laut schmatzend davon.

»So geht das nicht weiter«, sagte Rosanna von Leipnitz. »Entweder der Papagei bleibt im Käfig …«

»Oder?«, krächzte Lea und zog den Kopf ein. – Als ob eine Unglücksbotschaft sie so nicht treffen könnte!

»Ihr bringt ihm endlich Manieren bei«, gab ihre Mutter zurück, und das klang ziemlich endgültig.

»Es ist unfair«, sagte Lucie später, nachdem alles aufgegessen und der Tisch abgeräumt war. »Mama hat uns erlaubt, ihn fliegen zu lassen.«

Lea seufzte tief und verdrehte die Augen.

»Es ist sogar noch unfairer.«

»Hä?« Lucie zog die Stirn kraus. »Wieso denn das?«

Die Zwillingsschwestern hockten nebeneinander auf dem Sofa und hielten den Blick auf die offene Tür des Papageienkäfigs gerichtet.

Punkt-um saß auf dem Wohnzimmerschrank und putzte sich das Gefieder. Eine einsame Spaghetti baumelte über dem Schlüssel einer Schublade. Den Rest der Nudeln, die nicht im Magen des Papageis verschwunden waren, hatten Lea und Lucie bereits eingesammelt und im Mülleimer entsorgt.

»Ganz einfach«, begann Lea aufzuzählen. »Erstens: Papa hat Punkt-um angeschleppt, Mama hat erlaubt, ihn fliegen zu lassen, und du hast ihm die ganzen schlimmen Wörter beigebracht.«

»Das stimmt nicht!«, wies Lucie sofort von sich. »Papa und Opa Pistorix fanden das lustig und haben mitgemacht. Und du hast ihm als Erste erlaubt, von deinem Teller zu essen.«

Lea seufzte noch einmal. Da hatte Lucie leider recht.

Ihr Großvater, ihr Vater, Lucie und sie – sie alle hatten ihren Spaß mit Punkt-um. Nur ihre Mutter war als Einzige von Anfang an dagegen gewesen, einen Papagei in der Wohnung zu halten.

»Ich wette, Mama will ihn loswerden«, orakelte Lucie.

Ein Schreck durchzuckte Leas Herz.

»Das darf sie nicht«, sagte sie mit puddingweicher Stimme. »Wo soll er denn hin? Etwa in ein Tierheim? Oder zurück in die Zoohandlung?«

»Zoo wäre schon mal die richtige Richtung«, ertönte Rosanna von Leipnitz’ Stimme aus dem Flur.

»Oaaah, du hast uns belauscht!«, rief Lucie empört.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte ihre Mutter. »Ich bin auf meinem Weg zur Bügelwäsche lediglich an der Wohnzimmertür vorbeigekommen.«

»Jedenfalls geben wir Punkt-um nicht her!«, rief Lea. »Er hat sich doch schon total an uns gewöhnt.«

»Und wir uns an ihn«, fügte Lucie hinzu.

»Trotzdem wäre er im Zoo, wo er mit seinen Artgenossen in einer großen Voliere leben könnte, sehr viel besser aufgehoben«, argumentierte Rosanna von Leipnitz.

»Das ist nicht dein Ernst!«, stieß Lucie hervor.

»Verrraaat!«, kreischte Punkt-um. »Aufhängen den Kerl!«

»Halt bloß den Schnabel«, sagte Lea. »Und sieh zu, dass du in deinen Käfig kommst.«

»Mein Süßer«, erwiderte Punkt-um zärtlich und knabberte an seinen Krallen.

Plötzlich hob er vom Wohnzimmerschrank ab, umkreiste die Stehlampe und landete auf der Käfigklappe.

»Sehr gut«, lobte Lea ihn, kraulte ihn kurz am Hals und stupste ihn sanft an. »Und jetzt hinein mit dir.«

»Mein Süßer«, säuselte Punkt-um.

Er kletterte auf seine Schaukel, und Lea schloss die Käfigtür.

»Klappe zu, Affe tot«, vermeldete Punkt-um und ließ sich hinterrücks von seiner Schaukel fallen.

»Oh Mann«, stöhnte Lea. »Wie sollen wir ihm das bloß alles wieder abgewöhnen?«

»Ich krieg das auf keinen Fall hin«, sagte Lucie. »Das musst du machen. Du hast doch selber gesehen, wie gut er auf dich hört. Ich kann nur versuchen, in seiner Gegenwart keine schlimmen Wörter mehr zu sagen«, beeilte sie sich hinzuzufügen, als sie den empörten Blick ihrer Schwester bemerkte.

»Sonst noch was?«, brummte Lea.

»Am besten, du nimmst ihn mit in dein Zimmer«, schlug Lucie vor. »Damit er ab sofort weder Werbung noch Agententhriller anschauen kann.«

Lea richtete den Blick genervt zur Zimmerdecke. »Tolle Idee!«

»Hast du ’ne bessere?«, fragte Lucie.

»Nein«, knurrte Lea. »Aber nur unter einer Bedingung«, forderte sie. »Du setzt nie wieder ungefragt einen Fuß in mein Zimmer. Uhuuund … du lässt die Finger von meinen Sachen.«

»Wieso denn?«, fragte Lucie. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihre Schwester angriffslustig. »Hat dir mein Vorschlag zum Geldverdienen etwa nicht gefallen?«

»Es heißt Süße und nicht Süßer«, wisperte Lea. »Zumindest wenn du mit mir redest. Oder mit Mama«, bekräftigte sie. »Es wäre gut, wenn du Mama in Zukunft Süße nennen und nur noch nette Sachen zu ihr sagen würdest.«

Punkt-um antwortete nicht. Was kein Wunder war, schließlich hockte er unter seinem Tuch – und hatte vermutlich den Kopf schon längst unter seinen Flügel gesteckt und schlief.

Lea dagegen fühlte sich schrecklich munter. Immer wieder schielte sie auf ihren Wecker und kniff danach vor Schreck die Augen zu.

OMG! Schon zehn vor elf! Normalerweise war sie bereits zwischen neun und halb zehn in tiefen Schlummer gesunken.

Leise stöhnend wälzte Lea sich hin und her, drehte ihre Bettdecke zu einer Wurst und schlang die Beine darum. Sie zog an den Ecken, machte Knoten hinein und dröselte sie wieder auf. Doch völlig egal, was sie mit ihrer Bettdecke machte, es half nichts. Lea konnte gar nicht anders, als an Punkt-ums ungewisses Schicksal zu denken, und sich darüber zu ärgern, dass Lucie einfach in ihre Kladde geschrieben hatte.

»Blöde Kuh«, murmelte sie so leise, dass der Papagei es unmöglich hören konnte.

Lea enthedderte ihre Bettdecke, zog sie sich bis unters Kinn und drehte sich der Wand zu. Langsam ließ sie ihre Hand darübergleiten. Lucies Bett stand genau gegenüber, nur fünfzehn oder zwanzig Zentimeter Wanddicke entfernt. – Ob sie wohl auch nicht einpennen konnte?

Vielleicht sollte Lea vorsichtig anklopfen. Nur ein einziges Mal. Und wenn Lucie dann nicht reagierte, könnte sie vielleicht aufstehen und zu ihr hinüberhuschen. Nein, besser nicht. Papa konnte es nicht leiden, wenn die Schwestern unter der Woche in einem Bett schliefen.

Genau genommen fand er es grundsätzlich blöd.

Er nannte es Zwillingskrankheit.

Na ja, direkt ausgesprochen hatte Gerald von Leipnitz dieses Wort bisher so natürlich nicht, und er würde es wohl auch niemals tun. Aber Lea und Lucie wussten genau, was er dachte, nämlich dass sie seiner Ansicht nach lange genug wie zusammengewachsen aneinandergeklebt hatten. – Ts!

Eigentlich müsste sie Papa ihre Liste mit den Unterschieden mal zeigen und ihn daran erinnern, dass Lucie und sie mehr miteinander stritten als aufeinanderhingen. In dieser Hinsicht verhielten sie sich nämlich nicht anders als andere (normale) Geschwister.

Wenn Lucie langweilig war, kam sie schnell auf komische Ideen und konnte schon mal unerträglich sein. Deshalb war es ja auch irgendwie gut, dass Papa, der Mathe an ihrer Schule unterrichtete, darauf bestanden hatte, dass Lucie in die Parallelklasse kam.

Der wahre Grund für diesen erzwungenen Klassenwechsel war allerdings ein anderer und hatte wohl nur ganz nebenbei etwas damit zu tun, dass ihr Vater ihnen eine Zwangstrennung verordnen wollte. Davon zumindest waren Lea und Lucie überzeugt. Und ein bisschen zugegeben hatte Papa es ja schließlich auch.

Das Ganze hatte mit Miriam zu tun, die Klassensprecherin in der 6a gewesen war und damals wohl von ihren Mitschülern gemobbt wurde. Lucie verdächtigte sogar Herrn Senfig, ihren Erdkundelehrer, etwas damit zu tun gehabt zu haben. Beweisen konnte sie das allerdings nicht.

Überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war sie, nachdem Lea eine mysteriöse Handynummer in Gerald von Leipnitz’ Notizbuch gefunden und die Schwestern dort angerufen hatten. Zu ihrer Überraschung war damals nämlich Miriam am anderen Ende gewesen und hatte sich total aufgeregt danach erkundigt, ob er schon etwas über Herrn Senfig herausgefunden hätte. Die Schwestern hatten zwar von Lucies Handy aus telefoniert und sich nicht einmal mit Namen gemeldet, trotzdem war Miriam wohl – aus welchem Grund auch immer – davon ausgegangen, dass Gerald der Anrufer war. Tja, und als sie ihren Fehler bemerkte, hatte sie die Verbindung dann auch ganz schnell gekappt.

Merkwürdig eigentlich, dass Lucie noch gar nichts weiter über diese Senfig-Sache herausgefunden hat, schoss es Lea durch den Kopf. Darauf musste sie ihre Schwester morgen unbedingt noch mal ansprechen. Immerhin war Lucie jetzt Klassensprecherin in der 6a … ähm 7a …

Lea gähnte herzhaft. Sie merkte noch, wie ihre Hand die Wand hinunterglitt und in die Bettdecke sank. – Und dann war sie auch schon eingeschlafen!

»Tachchen auch«, quäckelte Punkt-um, als Lea am nächsten Morgen das Tuch von seinem Käfig herunterzog.

»Guten Morgen, Süße«, erwiderte sie gähnend, obwohl es ja eigentlich Süßer hätte heißen müssen.

Damit der Papagei ihre Mutter jedoch in Zukunft mit den richtigen Worten ansprach, konnte Lea auf grammatikalische Korrektheit keine Rücksicht nehmen.

»Ich bin hundemüde«, erklärte sie Punkt-um, während sie das Tuch zusammenfaltete.

Der Papagei tänzelte auf seiner Stange hin und her.

»Hundemüde«, erklärte er und fing an zu schnurren.

»Vielleicht hat Lucie recht, und ich sollte wirklich Hunde ausführen«, grübelte Lea. Sie legte das Tuch auf einen freien Platz in ihrem Regal und nahm frische Unterwäsche aus ihrem Kleiderschrank. »Also nicht nur zum Spaß, weil ich Hunde gernhab, sondern hauptsächlich, um mir das Geld für eine Gitarre zu verdienen«, setzte sie entschieden hinzu.

»Hundemüde«, warf Punkt-um ein und flatterte aufgeregt mit den Flügeln.

»Du alter Schwindler«, meinte Lea kichernd. Sie schlüpfte in ihre Jeans und zog einen hellblauen Kapuzenpulli über. »Du bist überhaupt nicht müde, sondern putzmunter.«

Der Papagei kratzte sich am Kopf und krakeelte: »Putzmunter, du alter Schwindler.«

»Oh nein!«, rief Lea. »Das mit dem S-c-h-w-i-n-d-l-e-r musst du bitte ganz schnell wieder vergessen. Ja?«

Punkt-um nickte und sagte zuerst »Oooh neiiin« und dann »Jaaa?«.

Lea rollte mit den Augen. Das musste jetzt einfach sein, und zum Glück konnte ihr der Papagei das nicht nachmachen.

»Ich habe hundertfünfundfünfzig Euro und ein paar Zerquetschte in der Spardose«, erzählte sie ihm.

Lea hob ihren Rucksack auf den Schreibtisch und überprüfte seinen Inhalt. Jawohl, für den heutigen Dienstag schien tatsächlich alles drin zu sein.

»Vielleicht kann Rabatze mir ja sagen, ob man dafür auch schon eine gute gebrauchte Gitarre bekommt?«, murmelte sie vor sich hin.

Keine Ahnung, wieso sie ausgerechnet auf ihn kam, aber irgendwie war ihr so, als hätte sie schon mal irgendwo gehört, dass er in der Schulband spielte. Wenn es tatsächlich so war, wusste er ganz bestimmt über Musikinstrumente Bescheid.

»Geheimnisverrat«, säuselte Punkt-um.

»Ich weiß, dass Rabatze Lucies Freund ist«, versicherte Lea ihm. – Und sie ein klitzekleines bisschen in ihn verliebt ist, fügte sie stumm hinzu. »Ich will auch gar nix weiter von ihm«, beschwor sie den Papagei. »Trotzdem kannst du die Sache bitte gerne für dich behalten.«

Vielleicht sollte sie Lucie aber auch ganz einfach direkt darauf ansprechen, damit so eine komische Hintenrum-Geschichte gar nicht erst entstehen konnte.

»Aber ganz bestimmt nicht jetzt«, brummte Lea, legte die Klappe um, ließ die Verschlüsse einschnappen und schulterte ihren Rucksack.

»Bis später«, sagte sie und nickte dem Papagei noch einmal kurz zu. »Und sei schön brav.«

Lea gähnte noch einmal, schüttelte sich, als ob sie die Müdigkeit auf diese Weise loswerden könnte, und marschierte auf die Tür zu.

»Hiiilfeee!«, brüllte Punkt-um mit Rosanna von Leipnitz’ Stimme. »Luciiieee!«

Lea wirbelte herum.

»Bist du verrückt geworden?«, zischte sie und presste mahnend den Zeigefinger gegen ihre Lippen. »Lucie soll doch nicht in mein Zimmer kommen. Und wenn sie denkt, dass Mama sie ruft, macht sie es natürlich trotzdem.«

Wie Lea ihre Schwester kannte, würde diese es vermutlich selbst dann tun, wenn ihr klar wäre, dass das Gebrüll auf Punkt-ums Konto ging, und er die Stimme ihrer Mutter nur imitiert hatte.

»Mann ey!«, schimpfte Lea. »Du bringst mich noch in Teufels Küche. Und dich gleich mit dazu.«

»Guten Appetit«, erwiderte Punkt-um gelassen.

»Das wünsche ich dir auch«, brummte Lea, stürmte in den Flur hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Gerald von Leipnitz, der vor dem Garderobenspiegel stand und sich die Krawatte band.

»Gegenfrage«, konterte Lea. »Seit wann trägst du in der Schule einen Schlips?«

»Geheimnsiverrraaat!«, krakeelte es aus ihrem Zimmer. »Alles Arschlöcher! In den Kerker mit dir, Süße.«

»Wen Punkt-um wohl damit meint?«, wunderte sich Leas Vater. »Und wieso steht er nicht mehr im Wohnzimmer?«

»Hat Mama dir das nicht erzählt?«, erwiderte Lea, während sie auf die Küche zusteuerte.

Lucie saß bereits dort und schaufelte Cornflakes in sich hinein.

»Nein, hat sie nicht«, antwortete Gerald von Leipnitz, der ihr hinterhergeeilt war und nun den Kaffeeautomaten einschaltete.

Seine Krawatte war äußerst lässig gebunden.

»Sieht cool aus«, bemerkte Lucie und reckte den Daumen. »Kommt garantiert gut an bei den Zehntklässlern.«

»Ich verbitte mir jede Anspielung auf mein Outfit«, gab Gerald von Leipnitz mit ernster Miene zurück, »und hätte stattdessen gerne eine Antwort auf meine Frage, wieso der Papageienkäfig neuerdings in Leas Zimmer steht.«

»Weil Mama sein Geschmatze nicht mehr hören will«, klärte Lea ihn auf. »Und die unflätigen Ausdrücke auch nicht.«

»Ach, tatsächlich?«

Gerald von Leipnitz stellte eine Espressotasse unter die Düse des Kaffeeautomaten und drückte auf einen der vielen Knöpfe.

»Sie findet, dass man so unmöglich Besuch bekommen kann«, fuhr Lea fort.

»Hmhm.« Ihr Vater nickte. »Ich gebe zu: Da hat sie recht.«

»Zum Glück hat Punkt-um bisher nicht mitbekommen, wie es klingt, wenn du furzt«, sagte Lucie leise in ihre Cornflakesschale.

Gerald von Leipnitz verstand es trotzdem.

»Ich finde, wir sollten das Thema wechseln«, brummelte er.

»Okay«, meinte Lucie. »Dein Kaffee läuft über.«

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

»Das kann nicht sein, ich habe einen Espresso gedrückt.«

»Dann hat der Automat das wohl falsch verstanden«, gab Lucie schulterzuckend zurück.

In der Zwischenzeit war Lea bereits ans Spülbecken geeilt und hatte sich einen Lappen geschnappt, mit dem sie nun die dunkelbraune Überschwemmung aufwischte.

»Danke, mein Engel«, sagte Gerald von Leipnitz, nahm ihr den Lappen aus der Hand und machte sich nun selber ans Werk. »Du bist wirklich ein Schatz.«

»Klar, und ich nicht«, murmelte Lucie. »Und weil ich so garstig bin, räume ich auch meine Schüssel nicht in die Spülmaschine«, fügte sie hinzu, sprang von ihrem Stuhl auf und trabte aus der Küche.

»Das ist doch Unsinn!«, rief Gerald von Leipnitz ihr hinterher. »Außerdem bin ich hier ja wohl der Depp!«, wetterte er weiter. »Wie kann man nur so verpeilt sein, eine Espressotasse in den Automaten zu stellen und auf Kaffee zu drücken?«, fragte er Lea.

»Ist doch gar nichts passiert«, erwiderte sie und schenkte ihrem Vater ein Lächeln. »Kannst du bitte noch mal mit Mama reden?«

»Ja, sicher …« Gerald von Leipnitz nickte. »Ähm, worüber denn?«

Ich glaube, du bist wirklich ein bisschen verpeilt, dachte Lea und sagte: »Über Punkt-um … Und dass er bitte bei uns bleibt und nicht in den Zoo ausgelagert wird.«

Es kam selten vor, dass Lea mit ihrem Rad voranpreschte und den gesamten Schulweg schneller in die Pedale trat als ihre Zwillingsschwester, aber genau das war heute der Fall.

Lucie hatte versucht, mit ihr zu reden. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sich wegen des Kladdenklaus zu entschuldigen, wenn – ja, wenn! – Lea nicht auf beleidigte Leberwurst gemacht hätte.

Und so strampelte Lucie artig hinter ihrer Schwester her, unterdrückte den immer wieder aufkeimenden Impuls, sie zu überholen, und legte sich stattdessen ein paar passende Worte zurecht.

»Wozu sind Schwestern denn da?«, murmelte Lucie. »Doch wohl, um alle Geheimnisse zu teilen! Verflixt, was verbirgst du vor mir? Warum bildest du dir … ein, etwas Besseres zu sein …?«

Lucie schüttelte unwillig den Kopf. Nein, das vielleicht doch besser nicht. Und wenn es sich noch so schön reimte!

»Wir werden Punkt-um retten, das verspreche ich dir«, sagte sie. »Und dass ich deine Kladde genommen und hineingeschaut habe, ist doch kein Drama. Ganz ehrlich, wir gehören zusammen, sind doch die echt originalen von Leipnitzer Doppelkekse … Oder hast du das etwa schon wieder vergessen? … Verflixt noch mal, Lea, WARUM VERTRAUST DU MIR NICHT?«, brüllte sie den Rücken ihrer Schwester an.

Ts! Warum wohl?, dachte Lea.

»WIESO DENKT IHR ALLE, DASS ICH EINE HINTERHÄLTIGE KUH BIN?«, brüllte Lucie weiter. Eigentlich wollte sie das nicht, aber in ihren Eingeweiden brodelte es, und wenn sie ihren Frust nicht loswurde, kochte sie womöglich noch über. »SOGAR PAPA DISST MICH VOLL!«

»Das ist doch überhaupt nicht wahr«, murmelte Lea.

Ganz sicher würde sie sich jetzt nicht auf eine lautstarke Diskussion mit ihrer Schwester einlassen – ohne ihr dabei ins Gesicht sehen zu können und noch dazu mitten im Straßenverkehr.

Zum Glück war es bis zur Schule nicht mehr weit.

»UND DU SCHLEIMST DICH AUCH NOCH BEI IHM EIN!«

»Wrrr!«, knurrte Lea.

Sie war kurz davor, eine Vollbremsung hinzulegen und vom Rad zu springen. Doch sie riss sich zusammen und steuerte mit aufeinandergepressten Lippen und vor Wut qualmenden Ohren auf die Einfahrt des Schulgeländes zu.

Und weil sie gerade so schön viel Dampf draufhatte, brauste sie mit Karacho bis zum Fahrradunterstand durch. Erst dort ließ Lea die Bremsen quietschen. Das Hinterrad blockierte und hinterließ einen schwarzen Streifen auf dem Asphalt.

»Wow!« Toby, der sein BMX-Rad gerade abgeschlossen hatte, hob anerkennend den Daumen. »Das war mega, Lucie!«

»Ich bin nicht Lucie«, teilte Lea ihm kurz angebunden mit, rutschte vom Sattel und hob ihr Rad in den Ständer.

»UND ICH HABE MICH AUCH NICHT BEI PAPA EINGESCHLEIMT!«, brüllte sie Lucie entgegen, die nun in ungewohnt gemächlichem Tempo angerollt kam. »Ich versuche nur, Punkt-um zu retten.«

»Weiß ich doch«, sagte Lucie.

Sie stellte ihr Rad neben das ihrer Schwester und öffnete ihr Kettenschloss.

»Und wieso sagst du dann so was?«, erwiderte Lea aufgebracht.

»Weil es ja trotzdem irgendwie stimmt«, knurrte Lucie. »Und weil ich in unserer Familie eindeutig die Po-Karte gezogen habe.«

»Da bist du selber schuld«, gab Lea zurück. »Wieso hast du Punkt-um auch so doofe Wörter beigebracht?«

»Okay.« Lucie atmete geräuschvoll aus und gab sich große Mühe, nicht total auszuflippen. »Erstens war ich das nicht alleine, sondern vor allem der Fernseher. Und zweitens finde ich ziemlich gemein, dass Mama jetzt plötzlich so eine Welle daraus macht.«

Lea zuckte die Achseln. »Vielleicht wollte sie uns bloß den Spaß nicht verderben.«

»Das ist totaler Quatsch«, konterte Lucie. »Meistens hat Mama sich doch selber über Punkt-ums Kommentare amüsiert. Und auf einmal soll das alles blöd sein?« Sie tippte sich an die Stirn. »Ganz ehrlich, Schwesterkeks, das kapier ich irgendwie nicht.«

»Und wenn schon«, brummte Lea. »Das spielt doch sowieso keine Rolle mehr. Mama hat eine ganz klare Bedingung gestellt: Entweder Punkt-um benimmt sich, oder er kommt weg.«