Cover

Table of Contents

Title Page

Widmung

Inhalt

Elisa Schwarz - Sommer am See

Levi Frost - Zwei in einem Boot

Justin C. Skylark - Zwei Zelte

Kai Brodersen - Sein schönster Sommer

Lena M. Brand - Wenn er tanzen will

J. Walther - Der Garten

Björn Petrov - Bloody summer

Dima von Seelenburg - Sommer 96

Carmilla DeWinter - Treffpunkt Siegessäule

Paul Senftenberg - Lakeview Summer

Nachwort

Bonus

Über die Beteiligten

Impressum

Buchtipp

 

Sein schönster Sommer

 

Anthologie

 

Hrsg. J. Walther

 

 

 

 

 

Zum Gedenken an Kai Brodersen

&

Levi Frost

&

Björn Petrov

Inhalt

 

Sommer - ein Versprechen von Hitze, sonnengetränkten Tagen und lauen, entspannten Nächten. Von Freibad und See, Meer und Urlaub. Von Lust und Sinnlichkeit, die unter der Sonne aufblühen.

Männer treffen sich um sich zu verlieben, zu entlieben oder nicht voneinander zu lassen. Manchmal romantisch, dezent erotisch, selten traurig, wird in den zehn Geschichten bekannter AutorInnen dem Sommer gehuldigt.

 

Mit Beiträgen von: Elisa Schwarz, Paul Senftenberg, Justin C. Skylark, Carmilla DeWinter, Levi Frost, Lena M. Brand, Dima von Seelenburg, Björn Petrov, Kai Brodersen und J. Walther.

 

 

Elisa Schwarz

 

Sommer am See

 

 

»Jan! Jan! Jan! Jan!« Das Grölen schallt über den Strandabschnitt des Badesees, die Clique feuert mich an. Ein Sprung vom Floß, drei, vier kräftige Kraulschläge durch den See und Lisa quietscht auf, als ich sie packe und unter Wasser drücke. Prustend kommt sie wieder nach oben, kräuselt die Nase und reißt den Mund auf. Schluckt dabei eine große Portion Wasser.

»Du Idiot!« Sie schlägt wild um sich und versucht mich zu treffen. Dabei geht sie fast unter vor lauter Lachen. Fabian und Pius tauchen neben uns auf und greifen nach ihr, doch sie hält sich eisern an mir fest. Eine wilde Schlacht beginnt. Wasser spritzt in alle Richtungen. Ich hole ein letztes Mal Luft, schnappe Lisa an der Taille und lasse mich abwärts gleiten.

Unter der Oberfläche schallt das Gelächter der anderen dumpf. Durch die strampelnden Beine um uns herum sprudelt das Wasser, während sich Lisas Griff an meinen Schultern festigt. Aus weit aufgerissenen Augen sieht sie mich an. Ihr blondes Haar fließt wie Seide um ihren Kopf, geht mit den sanften Bewegungen des kühlen Nasses. Erst als ihre Finger sich fester in meine Haut bohren, entlasse ich sie aus meiner Umklammerung. Eilig schwimmt sie nach oben. Vermutlich hat sie eine Heidenangst vor den Algen, die sich gerade um meine Füße und Beine herum schlängeln.

Ich tauche Richtung Strand davon. Meine Luft geht mir nur langsam aus. Sechs Minuten schaffe ich. Maximum. Bald kann ich den feinen Sand im Uferbereich mit den Händen greifen und kurz bevor ich strande, komme ich an die Oberfläche. Werde von Pfiffen, aber auch besorgt dreinblickenden Gesichtern empfangen.

»Jan!«, ruft Pius atemlos hinter mir. »Eh, Alter … du hast uns voll erschreckt.«

Erschöpft lege ich mich im seichten Wasser hin. Meine Lungen saugen den Sauerstoff in sich, wie das kostbarste Gut auf Mutter Erde, mein Brustkorb arbeitet dabei schwer. Es dauert ein paar Minuten, bis ich genügend Kraft getankt habe, um mich hochzustemmen. Dabei remple ich Diego, unseren Italiener, an. Er hat immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Nur gerade scheint ihm nicht der Sinn nach Humor zu stehen. Finster sieht er mich an und gibt mir einen kräftigen Schubs zurück. »Du Arsch! Wir waren krank vor Sorge, als du nirgends aufgetaucht bist. Ich hab echt gedacht, du bist abgesoffen oder in einen Sog von einem der Kiesrohre geraten. Das ist kein Spaß, Amico.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe, muss mir ein Grinsen verkneifen. Diego sieht es, dreht theatralisch die Augen und klopft mir kameradschaftlich auf die Schulter. »Die Mädels stehen auf so was!«

»Ach was …« Ich winke ab. Mädels will ich gar nicht beeindrucken. »Alles eine Sache des Trainings«, antworte ich ausweichend, stapfe zu meinem Handtuch und nehme die gleiche Liegeposition ein, wie eben schon am Ufer.

Annika starrt mich entgeistert an. »Mach das nie wieder«, schimpft sie los und legt ihre zierlichen Finger auf meine. Sie geht nicht das erste Mal auf Tuchfühlung. Ich mag sie, nur … sie kennt mich nicht. Ihr Zeigefinger spielt verträumt mit meinem Ring, den ich grundsätzlich trage.

Das Gegenstück existiert noch. Er ist Teil meiner Vergangenheit. Einer wunderschönen Zeit in Frankreich. Meine erste Liebe habe ich in der Bretagne zurückgelassen. Weit weg von hier. Für mich eine unüberwindbare Strecke. Umgezogen sind wir wegen des Jobs meines Vaters. Zwei Jahre ist das nun her. Und drei Umzüge später. Irgendwann, so haben Kylian und ich uns bei unserem Abschied geschworen, sehen wir uns wieder. Alleine der Gedanke an ihn lässt es um mein Herz herum wärmer werden und meine Nerven flattern, obwohl wir uns getrennt haben. Wir wollten auf die Entfernung hin keine Versprechungen machen, die wir nicht hätten halten können – und das war gut so. Wenn auch der Abschied schmerzlich war und wir über einen langen Zeitraum beinahe täglich in Kontakt standen: Handynachrichten, Facebook, Skype. Erst zum Jahresanfang ist unser Kontakt abgekühlt. Ein merkwürdiges Gefühl – wie ein zweiter Abschied. Ein endgültiger diesmal. Aber auch das war gut so! Die Bilder, die Kylian mir vor wenigen Wochen geschickt hat – von einem Segeltörn mit Freunden – haben keine Eifersucht in mir wachgerufen, keinen Schmerz in mir losgetreten. Was bleibt, ist die Erinnerung: Wenn ich in mich lausche, höre ich sein Lachen und kann seinen Atem riechen … immer nach Pfefferminz. Seine erfrischende Art und sein Talent, locker jedem ins Gesicht zu grinsen, fehlen mir manchmal. Genauso wie ich an bestimmten Tagen, wenn es mir nicht so gut geht, seine Nähe herbeiwünsche. Seine Wärme, die er abgestrahlt hat, das Gewicht von ihm auf mir, Streicheleinheiten, Seele baumeln lassen, Küsse, die einem bis in den Unterleib fahren … Alleine im Bett zu liegen, ist langsam zermürbend.

Meine Eltern lassen mich zum Glück in Ruhe. Vielleicht sind sie auch einfach nur gehemmt. Wissen nicht, was sie sagen sollen, um meinen nach wie vor herrschenden Unmut über die ständigen Umzüge abzumildern. Sie haben Kylian sehr gemocht. Er war ihnen immer ein willkommener Gast. Die Frage, ob ich nicht mal wieder einen Jungen mit heimbringen möchte, haben sie mir genau einmal gestellt. Wie soll ich jemanden kennenlernen, wenn wir ständig umziehen?

Unauffällig ziehe ich meine Hand weg und versuche, das beginnende Zittern in meinen Fingern und den aufkommenden Druck hinter meinen Augen zu verbergen. »Mir passiert schon nichts«, antworte ich lahm auf Annikas Gezeter und prompt legt sich ein Schatten über ihr Gesicht. Bestimmt nicht wegen meiner Antwort. Schuldgefühle steigen in mir auf, die nicht angebracht sind. Aber sie sind da, immer, wenn ich einem Mädchen einen dezenten Korb austeile. Sie nimmt ihre Hand ganz aus meiner Reichweite, umfasst sie beschämt mit ihrer anderen und sieht sich verlegen um. Niemand hat die Szene beobachtet. Dennoch fühlt sie sich unwohl, ich merke es an ihren Blicken. Sie atmet erst erleichtert auf, als Lisa tropfnass aus dem Wasser kommt und wie ein Stier schnauft, mich dabei ins Visier nimmt – wenn Blicke töten könnten. Ich grinse ihr entgegen und sie lässt sich dicht neben ihrer Freundin nieder. Annika quietscht auf und gibt ihr einen verspielten Klaps auf den Po. »Du bist pitschnass. Pfui. Ich bin gerade getrocknet.«

»Wenn Jan mich ärgert, musst du da auch durch.«

Pius grinst diabolisch hinter Annika und lässt das Handtuch geradewegs wieder fallen, mit dem er sein Gesicht trocknen wollte. Ich muss ein Lachen unterdrücken, senke schnell den Kopf. Annikas Quietschen beschallt gleich darauf den gesamten Strandabschnitt des Baggersees. Bis es platscht. Ihre Laute untergehen. Kurzerhand drehe ich mich, stütze mich auf den Ellenbogen auf und beobachte die Szene. Annika flucht lautstark, kann sich ein Lachen gleich darauf aber nicht verkneifen. Schon haben die Jungs ein weiteres Mädel aus unserem Jahrgang geschnappt.

Statt mitzumischen, betrachte ich mir die umliegenden Gäste, die, wie wir, bis in die Abendstunden ihrer Freizeit frönen. Ein Pärchen liegt eng aneinander geschmiegt etwas außerhalb. Bekommt von all dem Trubel um sich herum nichts mit. Perfekter kann es kaum sein. Ein paar Jungs, drei, vier Jahre älter als wir und gerade erst angekommen, haben bereits Bierflaschen in der Hand. Heavy Metal dröhnt aus der mitgebrachten Box und sekündlich werden die Liegeplätze um sie herum geräumt.

Mein Blick bleibt an einem von unserem Jahrgang hängen. Er liegt ein paar Meter hinter uns, hat Stöpsel im Ohr. Was er wohl gerade hört? Sein flacher Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig. Er sieht aus, als würde er schlafen. Ich gönne mir den unbeobachteten Moment und sauge seine Statur in mich auf: Die schwungvolle Linie seines Körpers, die leicht hervorstehenden Hüftknochen, die Rippenbögen, den flachen Bauch, der sich mit jedem Atemzug minimal hebt. Und ist das wirklich ein Tattoo auf der Hüfte? Sexy! Wo hat er eigentlich seine Brille? Seine braunen Haare kringeln sich wild am Kopf. Unfrisiert sieht er … verflucht heiß aus. Ich schlucke und beiße mir in die Wange. Wieso ist mir das nie aufgefallen? Sein Gesicht wirkt im seitlichen Profil scharf gezeichnet. Zum Nachfahren schön. Die Wangenknochen werfen Schatten über die leichten Grübchen, die er irgendwie immer hat. Auch, wenn er ernst guckt. Seine Augenbrauen haben einen wunderschönen, sanften Schwung und der Mund ist minimal geöffnet. Einladend! Verstohlen lecke ich mir über die trockene Unterlippe. Die Abkühlung von eben ist wie weggeblasen, mir wird unsagbar heiß. Und warm im Bauchraum. Er schlägt eine Fliege von seinem Bein, zuckt damit zurück und winkelt es an. Mir zieht es bis in den Unterleib. Gott sei Dank liege ich auf dem Bauch. Beschämt drücke ich mein Gesicht ins Handtuch, atme tief durch. Meine Wangen beginnen zu kribbeln. Bloß nicht rot werden. Lautlos zähle ich bis hundert und wieder rückwärts. Nur langsam beruhigt sich mein Hormonhaushalt wieder und ich spähe erneut hoch, sehe direkt in die Augen von Lisa, die mich interessiert mustert.

»Ist was?«, murre ich.

»Nein.« Sie lacht auf und schüttelt belustigt den Kopf. »Du hast nur gerade ausgesehen, als würdest du sämtliche Muskeln auf einmal anspannen. Heiße Gedanken oder machst du Sport im Liegen?«

Sie hat mich beobachtet? »Wieso liegt Levin alleine da hinten?«, lenke ich schnell von mir ab.

»Der liegt doch schon den ganzen Tag dort. Er war mit Kathrin hier. Die ist aber vor einer Weile gegangen. Hat einen Ferienjob.« Lisa macht es sich neben mir bequem. Immer noch tropft es aus ihrem blonden Haar, benetzt ihre Wimpern, ihre Wangen. Zuckersüß blinzelt sie mich an, als ich die Stirn runzle.

»Kathrin, du weißt schon … Das ist die aufgedrehte rote Zora eine Klasse unter uns.«

Bei mir macht es klick und ich sehe verstehend in Levins Richtung. Schade! Aber die Tatsache, dass er vergeben ist, hilft, den letzten Rest meiner heißen Gedanken auch noch zu vertreiben. »Wusste gar nicht, dass die beiden zusammen sind.«

»Sind sie auch nicht«, gibt Lisa stolz von sich. »Nur ist Kathrin sein einziger Kumpel.« Als Klassensprecherin ist sie scheinbar bestens informiert und ich rucke abermals mit dem Kopf zu Levin. Verdammt … viel zu offensichtlich.

Nun schießt mir doch Hitze ins Gesicht, mein Herz legt einen Takt zu. Klopft wie wild an meine Rippen. »Also, ich mag Levin irgendwie«, gebe ich leise zu.

Lisas Mund geht auf. Ungesagte Worte stehen zwischen uns, bevor sie den Kopf schüttelt, ihre nasse Mähne Wassertropfen in meine Richtung versprüht. »Wer mag schon Levin?«

»Wieso nicht?«

»Komm schon, Jan. Jetzt tu nicht so! Als hättest du schon viel mit ihm geredet.«

»Nein, leider nicht. Mir ist aber aufgefallen, dass er gut in der Schule ist. Ist das für euch ein Ausschlusskriterium?«

»Sicher nicht. Levin ist einfach komisch.« Herausfordernd reckt sie ihr Kinn nach vorne. »Ich weiß, wovon ich rede, bin immerhin seit der Einschulung mit ihm in einer Klasse. Er war nie anders. Immer sonderbar. Ein Einzelgänger eben.«

Levin sieht entspannt aus, wie er dort liegt, gar nicht sonderbar. Aber Lisa hat recht. Ich habe mich in den letzten Wochen versucht zu orientieren, wurde nach wenigen Tagen auf der neuen Schule anstandslos in den Kreis der Clique aufgenommen. Für mehr hatte ich bisher weder einen Blick, noch Zeit und Muße. Einleben war meine Devise. Auf keinen Fall als Außenseiter dastehen. Ich war einfach froh, schnell neue Freunde gefunden zu haben.

Wo steckt Levin eigentlich immer, wenn wir Pause haben? Aus welcher Richtung kommt er, wenn die Schule anfängt? Wo ist sein Zuhause? Hat er wirklich niemanden in unserem Jahrgang? Er sitzt in allen Fächern immer alleine.

Einer der jungen Männer steht auf und ich spanne mich schlagartig an. Beobachte, wie er auf Levin zugeht, seine Flasche herumdreht und Bier daraus laufen lässt. Direkt auf Levins Unterleib. Der schreckt auf und reißt sich die Stöpsel aus den Ohren. Gelächter und Anfeuerungsrufe schallen zu uns herüber. Torkelnd kommt Levin auf die Füße und rennt nach einer Schrecksekunde und einem kurzen Blickduell weg. Sein Kontrahent lacht hämisch auf. »Du schwule Sau … Lauf so schnell du kannst!«

Mir wird übel, Saures steigt in mir auf. Gerade noch so, unterdrücke ich einen Würgereiz und springe auf. »Lass ihn in Ruhe!«

»Was denn? Bist du auch ein Eierlecker?« Er spreizt seinen kleinen Finger ab, knickt in der Hüfte ein, stolziert auf mich zu und ahmt meinen französischen Akzent nach. »Qui, qui, stets zu Diensten! Wie hättest du es denn gern, Süßer? Französisch?«

Angst frisst sich durch meine Knochen. Verzweifelt versuche ich, meine Mimik zu kontrollieren. Die Musik wird leiser gedreht, der Typ kommt vor mir an und plötzlich stehen Pius und Diego neben mir. Meine Panik, die mich fest im Griff hat, lässt mein Herz bis in den Hals hinein schlagen. Langsam schüttle ich den Kopf, bekomme kaum mehr Luft. Gehe dennoch einen weiteren Schritt auf dieses Arschloch zu. »Lass – ihn – in Ruhe.«

»Und wenn nicht?« Der Typ rülpst mir ins Gesicht. »Bewirfst du mich dann mit Wattebäuschen? Oder bist du doch ein echter Kerl?«

Was sind das für welche? Ich kenne die nicht mal.

»Ich werfe mit gar nichts und suche auch nicht nach Ärger.« Meine Stimme ist dünn, klingt nicht fest genug. Ich will zurücktreten und pralle gegen einen Körper. Blitzartig schnelle ich herum und sehe Annika ins Gesicht. Sie nimmt meine Hand und drückt sich an mich.

»Jan ist mit mir zusammen, habt ihr damit ein Problem?«

Die schickt der Himmel!

 

Es ist bereits dunkel, als ich auf meinem Fahrrad zum See zurückkehre. Nur der Mond und meine Helmlampe beleuchten den Feldweg, der bis zur Kiesgrube führt. Der große Acker, der als sporadischer Parkplatz dient, liegt verlassen zu meiner Rechten. Ich bin tief in Gedanken versunken. Scheißtage gibt es. Heute war so einer. Unsere Clique hat sich nach dem Badetag getrennt. Jeder ist, kaum an unserem Ort angekommen, nach Hause gefahren. Sie werden es sich gemütlich machen. Fernsehen, Computerspiele zocken oder einfach nur schlafen. Andere haben Familiengrillabend auf dem Programm stehen, wieder andere treffen sich zu zweit oder dritt, gehen noch ins Kino oder ein Eis essen. Ich hatte keine Lust. Auch nicht auf Annika, die mich mit ihren großen, rehbraunen Augen bittend angesehen hat. Die Angst vor der Bedrohung steckt mir noch in den Knochen. Ich habe es wohl den anderen, vor allem aber ihr zu verdanken, dass ich ohne blaues Auge davongekommen bin. Wohl fühle ich mich dennoch nicht in meiner Haut. Und Levin? Seine gesamten Sachen wurden im See versenkt, sogar seine Sneakers und sein Rucksack. Nicht wirklich tief. Vorne, am Ufer … dennoch!

Er ist nicht mehr aufgetaucht. Ob er nach Hause gelaufen ist? Der ist doch klug, rede ich mir nun seit Stunden ein. Und verdammt scharf … Mich wundert immer noch, dass er mir vorher nie auf die Art aufgefallen ist.

Mein Herz donnert stetig in meinem Brustkorb. Das erste Mal, seit wir hier wohnen, bin ich richtig aufmerksam, habe meine Umgebung immer im Auge. Ich habe Angst! Nicht nur um meine Haut. Das Fahrrad lasse ich neben dem Fressbüdchen fallen, gleite aus meinen Flip Flops und stapfe durch den Sand Richtung Ufer. Die Schatten der Kieshaufen rund um den Baggersee wirken unheimlich. Mich schaudert’s. Es ist geisterhaft, wenn keiner mehr hier liegt, keine menschlichen Laute über den Strand dringen. Kein Wasserplatschen ist zu hören, dafür geben aber die Grillen in den umliegenden Gebüschen ein Konzert und immer mal wieder schallt der Ruf eines Greifvogels über die Felder.

Ich wate durch das flache Wasser am Ufer entlang, versuche mit der Helmlampe das undurchdringliche Schwarz zu durchbrechen. Langsam taste ich mich vor, zucke zusammen, als irgendwo im Wäldchen auf der anderen Seite ein Tier loskreischt. Eingeschüchtert laufe ich weiter, stoße mit dem Zeh an Etwas an und greife nach dem Gegenstand, dessen Silhouette sich in dem gebrochenen Licht abzeichnet.

Ein Schuh! Levins?

Nach weiteren zehn Minuten breche ich die Suche ab und atme erleichtert auf. Hier liegt nichts mehr. Hat Levin seine Sachen selbst herausgeangelt? Oder wurden sie weiter hineingeworfen? Wie geht es ihm? Frustriert lasse ich mich im Sand nieder. Den tropfenden Schuh fest in der Hand. Meine Anspannung fällt langsam von mir ab und die minimal abgekühlte Luft, die beständig über meine nackten Arme und Beine streift, hilft mir, klarer zu denken. Ich weiß schon, warum ich mich in dieser Kleinstadt bisher nicht outen wollte. Vielleicht ein Fehler? Hätte es Levin vor dem bewahrt, was ihm heute passiert ist oder ihm gar in den letzten Jahren schon zugefügt wurde? Gemeinsam ist so vieles leichter.

Wie blind bin ich eigentlich? Gedankenverloren spiele ich an dem Ring, der meinen Finger ziert. Drehe ihn ein ums andere Mal. Das ist beruhigend. Wäre Kylian nur nicht so weit weg. Er fehlt umso mehr, jetzt, wo mich die Stille umfängt, und der dunkle See ruhig vor mir liegt. Wasser war unser gemeinsames Element. Schwimme ich, kann ich mich in meinen Gedanken an ihn verlieren. Erinnere mich an eine wahnsinnig tolle, intensive Zeit. An das zaghafte Beschnuppern nach dem gegenseitigen Erkennen und Kennenlernen, an geflüsterte Offenbarungen, an vorsichtiges Herantasten, sanftes Streicheln, erstes Erkunden. An wundervolle Stunden voller Lust. An heiße Sommertage und gleichbleibend warme Nächte. Ich sehne mich so sehr … und kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es Kylian ist, den ich so sehr vermisse, oder einfach Zärtlichkeit. Lieben und geliebt werden. Eine Träne rollt über meine Wange, hastig ziehe ich die Nase hoch, krampfe meine Finger in den Stoff des Schuhs.

 

Ich hasse Warteschlangen an Kassen. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als für meine Mutter den Einkauf zu erledigen. Sie hasst es nämlich auch. Und hat viel weniger Zeit als ich. Mir läuft der Schweiß in Bächen den Rücken hinunter. Es ist gnadenlos heiß und die Lüftung scheint in diesem Einkaufsmarkt langsam in die Knie zu gehen. Die Straßenbeläge im Ort platzen auf, flimmernde Hitze steigt vom Boden empor. Erschwert das Atmen, das Bewegen. Sobald ich nach Hause komme, fahre ich an den See. Unsere Clique ist dort später verabredet. Einen ganzen Tag chillen. Nächste Woche beginnt die Schule wieder, dann ist der Spaß vorbei. Das letzte Schuljahr steht an und wir sind alle froh bei dem Gedanken, dass die Paukerei in absehbarer Zeit ein Ende hat. Studium, Ausbildung oder was auch immer danach kommt, schieben wir vor uns her. Für drei von uns steht es fest: Studium. Mich eingeschlossen. Lisa wird ein Auslandsjahr machen. Zwei weitere von uns wollen einen Beruf erlernen. Aber es redet dennoch niemand darüber.

An der Kasse geht es endlich weiter. Zwei Schritte nach vorne. Sogleich trete ich aber wieder ein Stück zurück, bevor ich die Mähne des Mädchens vor mir im Gesicht hängen habe. Eine Fülle an roten Haaren wird über die Schulter geworfen und … Ist das nicht die Freundin von Levin?

»Kathrin?«, rutscht es mir heraus, noch bevor ich darüber nachdenken kann.

Erstaunt dreht sie sich zu mir um und sieht auf. Die lebendigen Korkenzieherlocken umrahmen ihr herzförmiges Gesicht. Ihre helle Haut ist über den Sommer nur minimal dunkler geworden. Grüne Augen funkeln mir entgegen. Aber sie sagt nichts.

»Hey.« Geistreich nicke ich ihr zu. »Ich bin Jan, ein Jahrgang über …«

»Ich weiß, wer du bist. Was willst du?«

Ich blinzle verwirrt. Kathrin und Levin habe ich den ganzen Sommer über nicht mehr gesehen. Fünf Wochen ist das jetzt her. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickt sie mich weiter herausfordernd an. Ihre schön geschwungenen Lippen pressen sich zu einem Strich zusammen und ihre Haut wirkt kühl. Schwitzt sie denn gar nicht? Ich zerfließe hier gleich.

»Ihr wart nicht mehr schwimmen und …«

»Levin lag drei Wochen im Bett. Er war krank.«

Ach du Scheiße! Mein Mund klappt auf, der Druck hinter meinen Augen ist schlagartig da und in mir sackt etwas Tonnenschweres nach unten. »Ist er …« Hilflos stottere ich los. »Du weißt schon …War er … schwer verletzt?«

Sie wird bleich und diesmal blinzelt sie perplex. Nur langsam verlieren ihre Gesichtszüge an Härte. »Ach, das meinst du!« Verstehend zuckt sie mit den Schultern. »Nein, er ist mit dem Schrecken davongekommen. Wie gut, dass er so viele arschige Klassenkameraden hat, die ihm zur Seite stehen. Levin war einfach nur krank. Sommergrippe. Beruhigt?«

Erleichtert atme ich auf – trotz ihrer Beleidigung und Fehlinterpretation – und nicke schnell. Mann, wieso erfahre ich das erst heute? Jeder, bei dem ich versucht habe, etwas über Levin herauszubekommen, hat abgeblockt. Antworten wie: ‚Nein, keine Ahnung, wo der wohnt. Der hat nie einen von uns eingeladen.‘ und ‚Glaub, der wohnt am Stadtrand in einem der Wohnbunker. Keine schöne Gegend.‘ wechselten sich ab mit: ‚Was willst du denn ständig mit Levin? Pfff … Dem wird’s schon gut gehen.‘ Irgendwann habe ich es aufgegeben. Meine Freunde haben mir ihr Desinteresse an Levin deutlich vermittelt. Vielleicht wussten sie auch einfach, dass ihm nichts passiert war.

»Ich habe mir Sorgen gemacht«, gebe ich gepresst zu. »Kannte er die?«

»Die? Du meinst Thomas und seine Leute? Die sind hier bekannt, ja. Und machen jeden dumm an, sobald jemand nicht in ihr Weltbild passt. Zu dick, zu dünn, zu langsam …«

»Zu schwul?«

Kathrin rollt genervt die Augen, dreht mir den Rücken zu und legt einen Schokoriegel und einen Smoothie auf das Warenband. Klatscht einen labberig wirkenden Fünf-Euro-Schein daneben und sieht mich über ihre Schulter wieder an. »Wie gesagt, sie legen sich mit vielen an. Bisher zwar nur mit Worten, aber darauf verlassen wir uns nicht. Levin ist natürlich ein gefundenes Fressen. Aber euch kann’s ja egal sein.«

Verbissen kaue ich auf meiner Wange herum. Was soll ich darauf sagen? Klingt, als wäre ich der Einzige, der es nicht wusste. Stumm beginne ich, den Inhalt des Einkaufswagens auf das Band zu stapeln. Kathrin schnappt sich ihre beiden Sachen und rauscht davon. Ohne mir noch einen Blick, geschweige denn ein »Tschüss« zu gönnen. Mit ihrem schwingenden Sommerrock weht sie auf ihren Ballerinas aus der Tür hinaus und hinterlässt einen angenehm blumigen Duft.

Ich starre ihr hinterher und auf einmal geht ein Ruck durch mich. »Warte mal …« Schnell laufe ich ihr nach, erwische sie gerade noch hinter der Tür und halte sie am Arm fest. »Wir treffen uns heute am See. Ein letztes Mal. Zum Ferienabschluss sozusagen. Habt ihr nicht Lust? Jeder bringt seinen Kram selbst mit. Also was zum Trinken und zum Grillen. Musik haben wir auch.«

»Oh Gott.« Kathrin rollt erneut mit den Augen. »Willst du es nicht verstehen? Oder was ist dein Problem? Glaubst du wirklich, Levin hat Bock, sich weiter angaffen zu lassen, dumme Sprüche zu kassieren oder gar angegriffen zu werden? Er geht seit Jahren durch die Hölle. Macht sich so unsichtbar wie möglich, um nur ja nicht in den Fokus von irgendwem zu kommen. Kriegt ihr eigentlich überhaupt noch was mit?«

»Ich schwöre, dass wir nicht so sind.« Und hoffe, dass ich mich damit nicht zu weit aus dem Fenster lehne. »Bitte, Kathrin, kommt doch einfach vorbei. Wir sind eine nette Truppe.«

Mein Mut verlässt mich, als mich eine harsche Stimme von der Kasse aus erreicht. Eilig reiße ich mich von Kathrins zweifelndem und gleichzeitig fragendem Gesicht los, stürme wieder rein, zahle schnell und schmeiße alles zurück in den Einkaufswagen. Ich habe mich zu weit vorgewagt. Was ist los mit mir? So verzweifelt bin ich doch gar nicht. Dennoch kann ich das Grinsen aus meinem Gesicht nicht mehr wegzaubern. Mann, das wäre schön, wenn ich Levin kennenlernen könnte.

 

Zwischen sagenhafter Erleichterung und heißer Enttäuschung darüber, dass Kathrin und Levin nicht aufgetaucht sind, liege ich inmitten meiner Freunde. Die Hitze steht in der Luft, weicht nicht mit der hereinbrechenden Dunkelheit. Es ist heißer als all die Wochen zuvor. Ein Witz, dass am Montag die Schule wieder losgeht. Wie sollen wir uns auf den Schulstoff konzentrieren? Pauken, büffeln, Klausuren hinter uns bringen. Die Ausgelassenheit hat bei uns allen nachgelassen. Wir sind im Laufe der Ferien ruhiger geworden. In uns gekehrter. Jeder von uns hängt seinen Gedanken nach. Ich denke an Kylian … und Levin …

Noch ein Jahr Schüler sein. Ich möchte eigentlich nicht studieren. Möchte lieber die Welt entdecken. Das war ein Traum von mir und Kylian. Aber alleine …?

»Jan!« Ein Schwall Wasser landet auf mir. Keine Sekunde später klatscht ein tropfnasses Handtuch auf meinen Bauch und ich krümme mich vor Schreck. Fluche und lache gleichzeitig los. Pius grinst mich mit schräg gelegtem Kopf an. »Schon gepennt? Auf, in die Fluten.«

Erst jetzt bemerke ich, dass einige Jungs in den See gesprungen sind, auf dessen Oberfläche sich bereits die Mondsichel spiegelt. Auf dem Floß, in der Mitte des abgesteckten Badebereichs, leuchtet eine Taschenlampe. Die sind ja verrückt. Wie haben die die Lampe dahin bekommen? Die Mädels kichern und tuscheln, stecken die Köpfe zusammen. Nicht eine hat den Mut, in undurchsichtiges, tiefschwarzes Gewässer zu springen.

Mit einem Satz bin ich auf den Beinen und hechte hinter meinen Freunden her. Über den Steg, mit einem Kopfsprung ins Wasser. Ich werde den Sommer vermissen. Leichtigkeit umspült mich. Niemand weiß, wie oft ich in den letzten Wochen alleine hierhergekommen bin. Lachend feuern die Jungs mich und Pius an. Mit ausdauernden Kraulschlägen bin ich wenig später an der schwimmenden Insel angelangt.

»Mann, du bist echt unheimlich. Wie kann man nur so schnell sein?« Diego reicht mir die Hand, hilft mir auf die glitschigen Stämme. Wenig später schlägt auch Pius an. Mir wird ein Bier gereicht und ich nehme dankbar einen tiefen Schluck, lege mich auf den Rücken und betrachte den Sternenhimmel über uns. Wie schön wäre es, jetzt nicht alleine hier zu liegen. Angekuschelt an jemandem, der mein Herz höher schlagen lassen könnte.

»Wir werfen gleich noch mal den Grill an. Es ist noch so viel übrig und Hunger hab ich eh immer.« Pius dreht sich, sieht mich an. »Ich hab Kathrin heute getroffen. Wieso hast du sie und den Loser Levin eingeladen?«

Ich halte für einen Atemzug die Luft an. Echt jetzt? »Was hat Levin euch getan?«

»Er ist sonderbar. Hatte nie Interesse, mit uns abzuhängen. Was soll man von so einem groß halten? Von ihm kam da nie was.«

»Das ist fies oberflächlich, Pius, das weißt du schon, oder? Vielleicht fühlt sich Levin ausgegrenzt? Darüber schon mal nachgedacht?«

»Er mag uns genauso wenig, wie wir ihn mögen. Er hat ja seine Kathrin.«

»Gut, dass er sie hat«, murmle ich und habe wenig Lust auf den Fortgang des Gesprächs.

»Sie wohnen zusammen, wusstest du das?«

»Echt? Kathrin und Levin?«

»Ja, als Kathrin wegen einer dummen Sache zu Hause rausgeflogen ist, hat er mit ihr eine Wohnung gemietet. Seine Eltern haben die beiden wohl unterstützt.«

Vor Erleichterung über diesen Satz läuft mir eine Träne die Wange hinab, noch bevor ich es verhindern kann. Zum Glück sieht es keiner. Zum Glück ist es dunkel. Ein dicker Kloß setzt sich in meinem Hals fest.

»Wusstet ihr von ihm?«

»Was? Dass Levin auf Männerärsche steht? Klar. Du etwa nicht?«

Ich schüttle den Kopf. Es wird immer deutlicher, dass Levin von seinen Klassenkameraden überhaupt keine Aufmerksamkeit bekommt. Als wäre er gar nicht existent. »Ich hab’s nicht gewusst, nein. Erst als das hier am See passiert ist.«

»Ist ja nichts passiert.« Pius Kopf ragt in meinem Sichtfeld auf. Er mustert mich. »Hast du ein Problem mit Schwulen?«

»Ihr?«

»Solange sie mir nicht an den Arsch gehen.«

»Wieso sollten sie

»Na ja … Hallo? Der ist schwul.«

»Und? Glaubst du, dein Arsch ist unwiderstehlich?«

»Was bist du denn jetzt so angepisst? Ist doch nur Spaß.«

»Euer Scheißspaß ist aber nicht lustig.« Noch im selben Moment beiße ich mir auf die Zunge und sprudle gleich darauf weiter: »Kein Wunder, dass Levin sich von euch fernhält. Witze auf Kosten anderer, die sich nicht wehren können oder wollen, sind unterste Schublade.«

»Mann, Jan. Reg dich ab. Spielst du jetzt die Moral-Polizei, oder was? Warum legst du dich denn so für den ins Zeug? Willst du ihm etwa deinen Arsch zur Verfügung stellen?«

»Und wenn?«

Schlagartig wird es auf dem Floß still. Nur das Schwappen des Wassers gegen die Stämme und Plastiktonnen, die zur Stabilisierung angebracht wurden, durchbricht das Schweigen. Irgendwo hinter uns springt ein Fisch, man hört den leisen Platsch, als er zurück ins Wasser gleitet. An dem undurchdringlichen, zugewucherten Ufer zu unserer Rechten beginnen die Frösche zaghaft, die Nacht einzuläuten. Ich stemme mich auf meine Ellenbogen, blicke in die Ferne, wage nicht, meine Freunde anzusehen. Niemals wollte ich mich während der Schulzeit outen. Sondern warten, bis ich studiert habe, mit beiden Beinen alleine im Leben stehe.

Mein Herz donnert laut gegen meinen Brustkorb. Mir wird kalt und ich beginne zu zittern. Meine Zähne klappern plötzlich aufeinander. Drei Jungs sitzen um mich herum und starren mich an. Mein einziger Vorteil: Ich bin schneller als sie, sollten sie handgreiflich werden. Doch niemand rührt sich. Ich höre sie nicht einmal Luft holen. Langsam stehe ich auf, winde beide Arme um meinen Oberkörper und fühle mich … irgendwie ausgestoßen.

»Jan.« Diego steht plötzlich hinter mir, legt seine Hand auf meine Schulter und drückt leicht zu. »Wieso hast du nie etwas gesagt?«

»Weil ich dazugehören wollte.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Ich bete gen Himmel, dass mein letztes Jahr auf dem Gymnasium kein Spießrutenlauf wird.

»Du bist ein cooler Typ. Wovor hast du Angst? Wir sind doch gar keine solchen Arschlöcher. Und homophob sind wir auch nicht.«

Ich höre aus seiner Stimme raus, dass Diego breit grinst. Doch die Erleichterung will sich bei mir nicht einstellen. Er drückt abermals meine Schulter und Pius taucht neben mir auf. »Tut mir echt leid, Mann.«

»Was?«, frage ich gepresst zurück.

»Wegen eben. So hab ich’s gar nicht gemeint.«

»Wie hast du es denn sonst gemeint?«

»Es war wirklich nur ein Spaß.«

»Ich scheiß auf eure Späße.«

Mit einem Kopfsprung tauche ich in den See hinab. Mein See. Ich kenne ihn nach nur einem Sommer in- und auswendig. Zitternd komme ich am Strand an, die Kälte in mir weicht nicht mehr. Von den anderen wurde ich noch gar nicht bemerkt. Meine Gedanken fahren Karussell.

»Was ist los mit mir, Kylian?«, flüstere ich vor mich hin und stapfe los. Den Kopf tief gesenkt. Die Schultern hängend. Ich werde erst wieder aufmerksam, als die Stimmen an unserem kleinen Wegwerfgrill und dem Deckenlager lauter werden.

»Sieh mal einer an, die Schwuchtel sucht tatsächlich Zuflucht bei ihren spießigen Schulfreunden.« Ich stocke. Scheiße, verdammt. Mein ganzer Körper spannt sich an, bereit zur Flucht. Erst nach den Schrecksekunden merke ich, dass ich gar nicht gemeint bin. Mich beachtet niemand.

»Du hast Badeseeverbot, schon vergessen? Du verpestest uns noch das Wasser.«

Mein Blick fliegt über die zehn, fünfzehn Köpfe. Levin sitzt mittendrin, Kathrin schiebt sich in dem Moment vor ihn. Er ist tatsächlich gekommen? Und ich war nicht da!

Hastig richte ich meine Aufmerksamkeit auf die stehenden Personen, auf der anderen Seite der Gruppe. Es sind drei der jungen Männer von damals. Neben ihnen ein Kasten Bier, auf den Schultern des linksstehenden eine Bassanlage. Missbilligend spuckt einer von ihnen in den Sand, und mir rutscht mein Herz in die Hose.

»Lasst ihn doch einfach in Ruhe«, ruft Kathrin aus. Sogar von hier sehe ich, wie sie vor Zorn bebt. Weitere aus meiner Clique stehen auf, stellen sich neben sie. Fäuste ballen sich, bereit zur Abwehr. Die Mauer meiner Freunde wird breiter und die Diskussion lauter. Ich rühre mich immer noch nicht. Schauer kriechen über meinen Rücken, verursachen Gänsehaut. Ein bisschen stolz bin ich dennoch. Die Wahl meiner Freunde war nicht so verkehrt. Levin kriecht weiter zurück. Im Schutz des Schattens, den die anderen ihm bieten.

In mich kommt Bewegung. Mit wenigen Sätzen bin ich bei ihm und zerre ihn auf die Füße. Vor Schreck zuckt er zusammen. Doch ich sehe ihn intensiv an. »Hab keine Angst.« Dabei zittert meine Stimme, ich habe selbst Schiss. Wünschte mich weit, weit weg. Nicht nach Frankreich – sondern einfach an einen sicheren Ort, gemeinsam mit Levin. Fest verschränke ich meine Finger mit seinen, beuge mich nah an sein Ohr. »Das stehen wir gemeinsam durch, versprochen. Du bist nicht allein.«

Pius kommt aus dem See, ballt die Fäuste, als er uns sieht.

»Es gibt Ärger.« Mit dem Kopf deute ich auf die Gruppe einige Meter von uns entfernt. Pius folgt meinem Wink und legt seine Hand an meinen Arm. »Hab ich schon gesehen. Wird Zeit, denen die Stirn zu bieten. Weiß gar nicht, warum das noch niemand gemacht hat.« Er nickt Levin zu, langsam aber sicher beginnen seine Mundwinkel zu zucken. »Kommt, lasst uns ihnen den Wind aus den Segeln nehmen.«