Vorbemerkung des Herausgebers

Martin Luther war ein Kirchenmann im wahren Sinn des Wortes. Sein Anliegen war es nicht, die Katholische Kirche zu zertrümmern, sondern sie zurück zu ihren wahrhaften Wurzeln zu führen. Die 95 Thesen sind kein bloßes Pamphlet, sondern aus fundiertem theologischem Wissen heraus formulierte Forderungen. Dennoch sind sie, und das macht die Sache doppelt interessant, stellenweise geradezu satirische Überspitzungen, aus denen immer wieder Ironie und sogar Sarkasmus aufblitzen.

Bei der Abfassung der Thesen musste Luther sehr bedachtsam sein und jedes Wort abwägen, um nicht sofort selbst ins Visier der Inquisition zu geraten und als Ketzer abgestempelt werden. So folgt auf jede harsche Kritik in der nächsten These sogleich wieder eine Besänftigung und ein Lob für Kirche und Papst – wenn sie denn richtig funktionieren würden, so Luthers Gedanke, den man zwischen den Zeilen herauslesen kann.

Im Zentrum der Kritik steht in den Thesen der ›Ablasshandel‹, mit dem sich Gläubige durch Geld von ihren Sünden freikaufen konnten – und das, ohne jegliche Reue an den Tag zu legen. Mit diesem Geschäft wurde – mit Unterstützung der Kirchenvertreter – enorm Schindluder getrieben und den Gläubigen vorgegaukelt, sie könnten sich durch einen Geldbetrag an die kirchlich lizenzierten Ablassnehmer ihrer Sünden entledigen.

Abgesehen von diesem Gedanken, der uns heute absurd vorkommt, war das Geschäft auch eine betrügerische Ausbeutung gerade der armen und ungebildeten Menschen. Während Reiche sich den Ablass ohne große Schwierigkeiten leisten konnten, mussten sich Arme den Geldbetrag bitter absparen – zumal man ihnen suggeriert hatte, der Ablass stünde noch über der göttlichen Gnade und ein Sündenerlass sei ohne ihn geradezu unmöglich. Es gab also gar keine andere Wahl.

In Bronze sind die 95 Thesen heute am Portal der Wittenberger Schlosskirche angebracht. Ob Luther sie damals, am 31. Oktober 1517, tatsächlich selbst dort als Pergament angeschlagen hat, ist nicht gesichert. Jedenfalls wurden sie bereits unmittelbar nach ihrem Erscheinen ins Deutsche übersetzt, gedruckt und vielfach verbreitet. Ihre Wirkung entfalteten sie überall im Land, und ihre Veröffentlichung gilt heute als Beginn der Reformation.

 

Über Martin Luther: Kaum ein anderer einzelner Mensch hat die Geschichte Deutschlands und ganz Europas so sehr verändert wie Martin Luther (1483–1546). Frustriert von der Katholischen Kirche seiner Zeit, rebellierte er dagegen und bekämpfte das institutionalisierte Kirchentum,

Dass nichtsdestoweniger rund 80 Jahre nach Luthers Tod sich ganz Europa in einen dreißigjährigen Glaubenskrieg stürzte, war weniger religiös und ideologisch motiviert, sondern es war das Ergebnis politischer Machtkämpfe, Gebiets- und Herrschaftsansprüche, unter denen die Religion politisch instrumentalisiert wurde. Die nach dem Krieg vollendete Kirchenspaltung in Katholiken und Protestanten war nicht Luthers Ziel gewesen. Er hatte keine ›zweite‹ christliche Kirche schaffen wollen, sondern die katholische, in der er zuhause war, reformieren und auf den seiner Meinung nach richtigen Weg der Gnade zurückführen.